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Der Richter als Henker des Volkswillens

Im Kurhaus Bergruh in Amden (SG) werden Asylbewerber untergebracht. Eine Volksinitiative gegen das Asylzentrum wurde für ungültig erklärt. Keystone

Immer mehr politische Entscheide werden rechtlich in Frage gestellt – vor allem auf Gemeindeebene. Volksinitiativen werden für ungültig erklärt, bevor sie zur Abstimmung kommen, und Gerichte stellen eindeutige Volksverdikte nachträglich in Frage. Sind Juristen und Juristinnen die Totengräber der direkten Demokratie?

Dieser Artikel erscheint im Rahmen von #DearDemocracy, der Plattform von swissinfo.ch für die direkte Demokratie.

Der Kanton St. Gallen wollte in seiner Gemeinde Amden 120 Asylsuchende unterbringen und mietete hierfür ein ehemaliges Kurhaus. Aus der Bevölkerung kam Widerstand, man wollte keine Asylbewerber im 1700-Seelen-Dorf. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) und eine Interessengemeinschaft sammelten Unterschriften für eine Initiative gegen das Asylzentrum. Die Initiative verpflichtete die Gemeindebehörden konkret, gegen den Kanton zu klagen.

Doch aus der Abstimmung wird nichts: Die Gemeindebehörden erklärten die Initiative gestützt auf ein Rechtsgutachten für ungültig. Laut Gutachten fällt der Entscheid über das Einreichen einer Klage gemäss Gesetz nicht in die Zuständigkeit der Bürgerschaft, sondern allein in die der Gemeindebehörden. Die Folge: Inzwischen leben 80 Asylbewerber in Amden – ob es der Bevölkerung passt oder nicht.

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Richter und Rechtsgutachter am Schalthebel der Macht

Das geschilderte Beispiel ist kein Einzelfall. Der von der Gemeinde Amden beauftragte Rechtsgutachter, Professor Andreas GlaserExterner Link vom Zentrum für Demokratie in AarauExterner Link, hat selbst den Eindruck: “Immer mehr politische Entscheide werden rechtlich in Frage gestellt – sei es, dass Initiativen im Voraus für ungültig erklärt oder Volksentscheide im Nachhinein rechtlich angefochten werden.” Zwar lasse sich das Phänomen mangels Untersuchungen nicht quantifizieren, doch seine Kollegen teilten diesen Eindruck.

Umgekehrt beobachtet Glaser auch, dass es immer mehr Volksinitiativen zu Themen gibt, die früher nicht als politischer Gegenstand, sondern als Rechtsthema betrachtet wurden. “Auch deswegen gibt es mehr rechtliche Konflikte und Fragen, die durch Gerichte und Gutachter beantwortet werden müssen.”

Als Ursache der Verrechtlichung politischer Entscheide identifiziert Glaser unter anderem die Individualisierung der Gesellschaft, die den Schutz der individuellen Rechte vermehrt ins Zentrum stellt. So kann beispielsweise die Stimmbevölkerung nicht mehr uneingeschränkt über einzelne Einbürgerungsgesuche befinden. Laut Bundesgericht – die höchste gerichtliche Instanz der Schweiz – sind Einbürgerungen kein politischer Entscheid, sondern ein Verwaltungsakt, der individuell und sachlich begründet werden muss.

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Diese Entwicklung wirft Fragen auf: Ist es demokratisch vertretbar, dass Gutachter über die Gültigkeit von Volksinitiativen bestimmen oder Richter Volksentscheide nachträglich aushebeln? Gibt das dem Berufsstand der Juristen und Juristinnen eine Deutungshoheit, die demokratisch noch legitimierbar ist?

Glaser räumt zwar ein, dass die Verrechtlichung der Demokratie aus direkt-demokratischer Sicht problematisch ist, bleibt insgesamt aber gelassen: “Entscheiden muss am Ende die Behörde, und nicht der Rechtsgutachter.” Der Entscheid über die Ungültigkeit einer Volksinitiative bleibt also ein politischer Entscheid – das Gutachten dient den Behörden lediglich als Entscheidungshilfe.

Verrechtlichung für Gemeinden ein Problem

Trotzdem lässt sich der Einfluss von Richtern und Rechtswissenschaftlern auf politische Entscheide nicht negieren. Das Phänomen der Verrechtlichung der Demokratie fällt besonders auf Gemeindeebene negativ auf. Der Grund: In den Gemeinden kann die Stimmbevölkerung über Details des Zusammenlebens bestimmen – konkrete Probleme und Konflikte sind damit vorprogrammiert. Auf nationaler Ebene hingegen ist das Initiativrecht auf die Verfassung, und damit grundsätzlich auf prinzipielle Fragen, beschränkt.

Das stellt die Gemeinden vor besondere Probleme: Während die meisten Kantone professionelle Verwaltungen mit vielen Juristen und Juristinnen beschäftigen, funktionieren die meisten der über 2350 Gemeinden der Schweiz nach dem Milizsystem. Das heisst: Bürgerinnen und Bürger übernehmen nebenberuflich öffentliche Aufgaben und politische Ämter. “Man empfindet ein Amt nur als attraktiv, wenn man über einen gewissen Spielraum verfügt, und nicht dadurch überfordert wird, dass man sich den ganzen Tag mit Rechtsfragen befassen muss”, gibt Glaser zu bedenken. Auch die Teilnahme an Abstimmungen und Gemeindeversammlungen werde unattraktiver, wenn man befürchten müsse, dass die Entscheide im Nachhinein rechtlich angefochten würden.

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Als Lösungsansatz schlägt Glaser vor: “Man sollte tendenziell Aufgaben mit grossem politischen Spielraum in die Kompetenz der Gemeinden legen, und jene mit engem Spielraum in die Kompetenz der Kantone.” Als Beispiel für geringen politischen Spielraum nennt er den Kindes- und Erwachsenenschutz, der früher Sache der Gemeinden war, und heute in den Händen professioneller kantonaler Behörden liegt. “Die Stimmbevölkerung kann doch nicht darüber entscheiden, ob ein Kind in einer Pflegefamilie platziert werden soll!” sagt Glaser. Hingegen gebe es Themen, welche die ansässige Bevölkerung sehr direkt beträfen – wie die Raumplanung – und daher weiterhin in die Kompetenz der Gemeinden fallen sollten.

Eine Gesamtlösung für das Problem der zunehmenden Verrechtlichung der Demokratie sieht Glaser jedoch nicht. “Man muss wohl mit dem Phänomen leben”, meint er lakonisch. Richter und Rechtsgutachter werden also auch in Zukunft – wenn nicht gerade Totengräber – so doch Kontrolleure der direkten Demokratie sein.

Welche Vor- und Nachteile hat die juristische Kontrolle über die direkte Demokratie Ihrer Meinung nach? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.

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