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Leuchtende Politkarriere ohne Augenlicht

Der Tessiner Vollblutpolitiker Manuele Bertoli. Ti-press

Der Tessiner SP-Kantonalpräsident Manuele Bertoli könnte der erste blinde Regierungsrat der Schweiz werden. Die neuen Technologien waren für die politische Karriere des 49-Jährigen entscheidend. Aber kann ein Blinder auch Regierungsverantwortung übernehmen?

Wenn Manuele Bertoli im Grossen Rat ans Rednerpult schreitet, wird es meist still im Saal. Denn unabhängig von der politischen Einstellung gibt es Respekt und Bewunderung für den 49-Jährigen, der trotz seiner Sehbehinderung die Tessiner Sozialdemokraten präsidiert und viele Jahre als Fraktionschef waltete.

Mit dem weissen Stock tastet sich Bertoli nach vorne. Er redet frei, natürlich ohne Manuskript, zitiert aber Zahlen, Berichte und Botschaften, als ob sie vor ihm lägen.

Wie schafft er das? “Es ist reine Übungssache”, sagt er lachend und zieht einen sportlichen Vergleich. “Auch Velofahrer können bestimmte Steigungen nur erklimmen, wenn sie stets trainieren.” Umgekehrt geht ohne Training eine angelernte Fähigkeit verloren: “Früher kannte ich alle Telefonnummern auswendig, jetzt sind sie im Telefon gespeichert und ich kenne sie nicht mehr.”

Langsam in die Blindheit

Manuele Bertoli kam nicht blind auf die Welt, aber schon im Kindesalter stellten sich Probleme mit dem Sehvermögen ein. In der Dämmerung und Dunkelheit war die Orientierung schwierig.

Er wusste früh, dass seine Netzhauterkrankung eines Tages zur vollständigen Blindheit führen würde. “Aber besser, man ist darauf vorbereitet, als das Augenlicht von einem Tag auf den anderen in einem Unfall zu verlieren“, tröstet er sich.

Jetzt kandidiert Bertoli bei den Kantonalwahlen vom 10. April für das Regierungsamt. Und gemäss den jüngsten Umfragen hat er gute Chancen, gewählt zu werden; als Nachfolger von Patrizia Pesenti, die nicht mehr kandidiert. Er wäre dann der erste blinde Regierungsrat der Schweiz.

Geheime Absprachen?

Doch kann ein Blinder diese Aufgabe in der Exekutive überhaupt ausüben? Liefe er nicht Gefahr, dass sich die Kollegen bei Staatsratssitzungen zuzwinkern und Absprachen treffen, ohne dass er etwas merkt?

Hinter seinem Rücken wird darüber viel gesprochen. “Aber niemand hat mich direkt darauf angesprochen, daher wollte ich dieses Problem aktiv thematisieren”, sagt Bertoli. 

Der Politiker zeigt sich dabei überzeugt, dass es sich bei den möglichen Problemen im Staatsrat um Pseudo-Probleme handelt. Denn in seiner langen politischen Karriere sass er schon in vielen Gremien, ohne dass es zu besonderen Schwierigkeiten gekommen wäre.

Vorteile im Amt

Im Regierungsamt hätte er sogar Erleichterungen und Vorteile: Ein Sekretariat, persönliche Mitarbeiter und einen Dienstwagen. Natürlich bräuchte es Anpassungen. “Ich kann keine seitenlangen Antworten auf parlamentarische Anfragen vorlesen, sondern müsste mich auf das Wesentliche beschränken”, so Bertoli.

Mit seinem Curriculum hat Bertoli eindrücklich aufgezeigt, was ohne Sehvermögen erreicht werden kann. Trotz zunehmender Schwierigkeiten absolvierte er das Lehrerseminar in Lugano und schloss danach Rechtswissenschaften an der Universität Genf ab.

“Wegen meiner Probleme brauchte ich aber sechs statt der üblichen vier Jahre”, sagt er, “dabei war der Übergang vom Lesen zum Stadium des Nicht-Lesens besonders schwierig.” Ab Mitte der 1980er Jahre benötigte er ein spezielles Gerät, das die Texte um ein Vielfaches vergrössert auf einen Bildschirm projizierte.

Geglückte berufliche Integration

Er arbeitete dann als Sekretär des Mieterverbandes, war SP-Parteisekretär und ist seit bald 10 Jahren Direktor der kantonalen Sektion des Blindenverbandes Unitas. Die IV half ihm finanziell beim Studium, eine IV-Rente hat er aber nie bezogen. “Ich bin ein gutes Beispiel geglückter Integration im Sinne der Invalidenversicherung”, sagt er. Humor und Schlagfertigkeit sind ihm nicht abhanden gekommen.

“Der Computer und neue Technologien waren meine Rettung”, meint Bertoli. Dank dieser kann er sich inzwischen fast genauso gut informieren wie einst als Lesender. Kommunikation ist kein Problem. Wenn er morgens in sein Büro kommt, liest er zuerst die Zeitungen. Er ruft die Online-Ausgaben ab und lässt sich von einer Computerstimme die Artikel vorlesen. Dasselbe gilt für Mails und E-Books.

In der Politik hat er sich in all diesen Jahren bei der SP langsam nach oben gearbeitet: Gemeinderat, Gemeinde-Exekutive, Grosser Rat, Parteisekretär, Fraktionschef. Seit 2004 ist er SP-Parteipräsident. Dabei führt er ein weitgehend normales Leben, wie er selbst sagt.

Der Moment echter Gleichberechtigung

Er lebt in Losone bei Locarno, ist verheiratet und hat einen siebenjährigen Sohn sowie eine vierjährige Adoptivtochter aus Äthiopien.

Neben der Politik und Familie widmet er sich ganz der Musik. In der Band “Green onions” spielt er Keybord. Und auch eine CD, in der er selbst singt, hat er aufgenommen.

Seine Kandidatur für den Staatsrat sieht er als Abschluss eines langen emanzipatorischen Prozesses: “Vor 100 Jahren mussten Blinde auf der Strasse betteln, vor 50 Jahren waren sie eine Last für die Familie. Jetzt ist der Zeitpunkt echter Gleichberechtigung gekommen.”

Menschen mit Behinderungen in hohen politischen Ämtern stellen nach wie vor eine absolute Ausnahme dar.

In Deutschland ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (68) an den Rollstuhl gefesselt. Er wurde 1990 Opfer eines Attentats während einer Wahlkampfveranstaltung. Drei Schüsse trafen ihn. Seither ist er vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt.

In England wurde 1997 der inzwischen 63-jährige David Blunkett für die Labour-Party unter Premier Tony Blair der erste blinde Minister des Vereinigten Königreichs. Zuerst war er für den Bereich Bildung und Beschäftigung zuständig, später für Inneres und Arbeit. Blunkett war seit der Geburt blind und in Westminster stets mit Blindenhunden unterwegs.

Im Schweizer Parlament sitzt Luc Recordon (55) für die Grünen im Ständerat. Der Waadtländer Politiker, Ingenieur und Rechtsanwalt, kam infolge einer seltenen genetischen Anomalie mit verkümmerten Schienbeinen zur Welt und geht auf zwei Prothesen. Er hat seine Behinderung offen kommuniziert.

Auch der Bieler Anwalt Marc F. Suter (57) setzte Zeichen. Er ist seit dem 20.Lebensjahr infolge eines Autounfalls querschnittgelähmt und seither Rollstuhlfahrer (Paraplegie). Von 1991 bis 2001 sowie einige Monate im Jahr 2007 sass er für die FDP im Nationalrat.

Eine wichtige Funktion können Politiker mit Behinderungen aber auch auf kantonaler oder städtischer Ebene spielen, wie das Beispiel von Joe A. Manser (57) zeigt. Der Rollstuhlfahrer und Architekt ist seit 1989 SP-Gemeinderat in der Stadt Zürich. 

Für die Behindertenverbände sind Politiker oder generell Personen des öffentlichen Lebens mit Behinderungen sehr wichtig. Denn sie stellen medial wichtige Vorbilder dar, um zu zeigen, dass solche Funktionen auch mit einer Behinderung erreichbar sind.

“In einer medialen Welt läuft diese Vorbildfunktion eben häufig über Leuchtfiguren”, sagt Mark Zumbühl, Sprecher von Pro Infirmis Schweiz, der Fachorganisation für behinderte Menschen.

Bei den eidgenössischen Wahlen 2007 hat Pro Infirmis mit Inseraten ganz bewusst Kandidaten mit Behinderungen, auch mit Seh- und Hörbehinderungen, unterstützt

Ganz ähnlich äusserst sich Eva Aeschimann von der Behinderten-Selbsthilfe Schweiz Agile. “Im Prinzip geht es um eine Selbstverständlichkeit”, so Aeschimann, “nämlich dass Menschen mit Behinderungen politisch denken und handeln wie alle anderen auch.”

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