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Idealismus: Motor der Schweizer Entwicklungshilfe

Ein Beispiel der Arbeit der Deza: Frauenförderung in Bangladesch in den 1980er-Jahren. deza / John Paul Kay

Ob bei der Unterstützung von Flüchtlingen aus Libyen oder bei der Hilfe in Japan nach dem verheerenden Erdbeben und dem Tsunami – die Schweizerische humanitäre Hilfe macht auch in diesen Tagen viele Schlagzeilen. Heuer ist sie 50 Jahre alt.

Seit genau 50 Jahren ist die Schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Sie engagiert sich in spektakulären Katastrophensituationen aber auch in längerfristigen Projekten, vom Kampf gegen die Armut bis zu Konfliktvermeidung und guter Regierungsführung.

Doch ohne die Unterstützung von privaten Organisationen und Idealisten an der Basis wäre die Hilfsorganisation der Regierung wohl nie entstanden.

Einer dieser Aktivisten war der 1929 geborene Martin Menzi. Gegenüber swissinfo.ch bezeichnete er seine Motivation als eine Mischung aus Idealismus der Nachkriegsjahre, der Überzeugung, dass es “keinen Krieg mehr” geben dürfe und dem Bewusstsein, dass wirtschaftliche Ungleichheiten eine langfristige Bedrohung für den Frieden bedeuten könnten.

“Es gab ‘progressive’ Gruppen, wie man sie nennen könnte, die über die Schweizer Grenze hinausschauten und die Behörden mit der Bitte angingen, die Schweiz sollte sich engagieren”, sagte er.

“Man sagte ihnen: Es ist an Euch, die Zivilgesellschaft zu motivieren und den Grundstein zu legen, damit die politischen Behörden folgen können. Und das haben sie dann getan.”

Naive Idealisten

Ein anderer junger Idealist war Theo von Fellenberg, Jahrgang 1935: “Ich war mir meiner privilegierten Situation bewusst, ich bin in einem komfortablen Zuhause aufgewachsen”, sagte er gegenüber swissinfo.ch.

Mit 25 ging er als Freiwilliger für den Service Civil International nach Indien. Die in der Schweiz gegründete Freiwilligen-Organisation hatte zum Ziel, das Völkerverständnis zu verbessern.

“Wir waren voller Idealismus – und ziemlich naiv. Wir waren überhaupt nicht vorbereitet. Ich reiste ab, ohne irgendeine Ahnung zu haben, wie Indien überhaupt funktioniert”, gab er zu.

Als er nach sechs Monaten nach Indien zurückkehrte, fragte er sich erstmals, was er dort gemacht hatte: Die Ziegelsteine, die er in schweisstreibender Arbeit für Slumbewohner hergestellt hatte, fand er unangetastet auf einem Haufen. Die Bewohner sagten ihm, sie seien glücklich mit ihren Hütten, doch sie hätten grosse Freude gehabt, dass er bei ihnen gewesen sei.

“Die Tatsache, dass wir mit ihnen gelebt hatten, war zehnmal wichtiger, als ihnen neue Häuser zu bauen”, erinnert er sich.

Aus Fehlern lernen

Menzi erlebte andere Geschichten: 1968 schickte die Deza den ausgebildeten Agronomen nach Indien. Er verbrachte zehn Jahre im südlichen Bundesstaat Kerala, um die Milchleistung zu verbessern, indem er Schweizer Kühe mit krankheitsresistenten lokalen Rassen kreuzte.

Auch jetzt noch ist die Milch für die lokalen Kleinbauern in Kerala ein wichtiger Einkommensfaktor. Der Milchkonsum im Bundesstaat ist heute achtmal höher als in den 1960er-Jahren.

Doch auch Menzi gibt zu, Fehler gemacht zu haben: “Die technischen Lösungen, die wir wählten, waren oft zu einfach. Häufig waren wir uns der Komplexität der Probleme nicht bewusst: Die Tatsache, dass beispielsweise die Nahrungsmittelhilfe nicht nur eine technische Angelegenheit ist, sondern auch von politischen und sozialen Strukturen abhängt. Oft muss man dort anfangen, wenn man eine nachhaltige Wirkung erreichen will.”

Über die Jahrzehnte hat sich der Ansatz gewandelt: Entwicklungshelfer hätten gelernt, sich ein Gesamtbild zu verschaffen, sagt er. Sie hätten gemerkt, dass man nicht einfach mit europäischen Lösungen einfahren könne, sondern mit Partnern vor Ort kooperieren und von ihnen auch lernen sollte.

Auf ihrer Website betont die Deza die Wichtigkeit einer systematischen und kritischen Bewertung ihrer Arbeit. “Evaluationen fördern institutionelles Lernen”, heisst es dort.

Rechenschaft

Zudem dienten Evaluationen “gleichzeitig der Rechenschaftslegung gegenüber Politik und Öffentlichkeit”, so die Deza.

Schliesslich brauchen alle Entwicklungs-Organisationen die Unterstützung jener, die sie finanzieren. Studienergebnisse zeigten Anfang März, dass zwei Drittel der Schweizer Haushalte im Jahr 2010 Geld an gemeinnützige Organisationen spendeten. Kürzlich hat das Parlament entschieden, die Schweizer Entwicklungshilfe aufzustocken.

Trotzdem sei es eine “Daueraufgabe”, die Schweizerinnen und Schweizer zu überzeugen, dass diese Hilfe wichtig sei, sagt Deza-Historiker und Entwicklungsexperte René Holenstein, der soeben ein Buch über die Organisation geschrieben hat.

“Historisch gesehen gab es immer Wellenbewegungen, bei denen ab und zu egoistische Interessen vorne lagen, ab und zu aber auch solidarische”, sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Während die Hilfe zum Teil Resultate zeigt, die für alle ersichtlich sind – wie etwa das Kuh-Projekt von Menzi – kann der konkrete Beitrag manchmal kaum beziffert werden.

Holenstein ist aber überzeugt, dass die Entwicklungsländer wirklich profitiert haben. “Die Leute überschätzen häufig die Wirkung der Hilfe. Doch diese ist oft eine Art Katalysator: Sie ist der Auslöser für Prozesse, die das Land oder die Leute selber fortführen.”

Archiv der Erinnerungen

Der Filmemacher Frédéric Gonseth, der mit seinem Humem-Team etwa 80 ehemalige Entwicklungs- und humanitäre Helfer interviewt hat – darunter auch Menzi und von Fellenberg – sagt gegenüber swissinfo.ch, dass die Schweizer Bevölkerung über deren Leistungen nicht wirklich im Bild sei.

Gonseth befragte nicht nur technische Experten, sondern auch Personen, die für Organisationen wie das Rote Kreuz arbeiteten. Viele haben bewegende Geschichten zu erzählen, einige sind erschütternd.

Viele ihrer Erlebnisse galten damals als vertraulich. Später, wenn sie darüber hätten sprechen können, fragte oft niemand mehr danach. Viele seien erstaunt gewesen, als er sie gebeten habe, sich mit ihren Geschichten am Archiv zu beteiligen, so Gonseth.

“Es sind Menschen, die Ausserordentliches erlebt haben, die Zeugen wichtiger historischer Ereignisse waren. Die Schweiz hat viel zu gewinnen, wenn sie etwas von diesem Aspekt ihrer Identität erfährt.”

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) gehört zum Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Sie wurde am 17. März 1961 geschaffen.

Die Deza ist sowohl für Nothilfe und Wiederaufbau wie auch für langfristige Entwicklungs-Zusammenarbeit zuständig.

Das Schweizerische Korps für Humanitäre Hilfe (SKH), das Einsätze nach Katastrophen leistet, ist Teil der Deza.

Zu den Zielen der Deza gehören die Armutsreduktion, die Förderung wirtschaftlicher Eigenständigkeit, die Suche nach Lösungen bei Umweltproblemen sowie ein besserer Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Grundversorgung.

Das Jahresbudget 2011 beträgt 1,7 Mrd. Franken.

Die Deza beschäftigt rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im In- und Ausland. Hinzu kommen 1000 lokale Angestellte.

Neben den eigenen Aktionen unterstützt die Deza Programme multilateraler Organisationen und finanziert Programme schweizerischer und internationaler Hilfswerke.

Auch das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) ist in der offiziellen Entwicklungshilfe tätig.

Das Buch von René Holenstein, “Wer langsam geht, kommt weit”, ist im Zürcher Chronos Verlag erschienen.

Eine Wanderausstellung mit Filmen wurde vom Oral-History-Projekt Humem produziert.

Das Projekt wurde 2006 mit dem Ziel aufgebaut, Zeitzeugen der humanitären Arbeit der Schweiz zu Wort kommen zu lassen.

Im Archiv finden sich 80 Film-Interviews mit Personen, die seit 1945 für humanitäre und Entwicklungs-Organisationen gearbeitet haben.

Die Ausstellung weilt bis am 25. Juni in Bern. Danach ist sie während zwei Jahren in weiteren Schweizer Städten zu Gast.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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