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“Schweizer machen Opposition gegen Europäisierung”

"Regierung und Parlament gingen davon aus, dass das Volk über jeden Vertrag abstimmen, aber nie Nein sagen darf", kommentiert Prof. Wolf Linder. Keystone

EU-Politik sei vor allem Elitepolitik mit beträchtlichen Demokratiedefiziten. Das Volk habe nur in der Schweiz die demokratischen Mittel, sich direkt gegen den Europäisierungsprozess zu wehren. Davon habe es am 9. Februar Gebrauch gemacht, sagt ein Demokratie-Experte.

Das Ja des Schweizer Stimmvolks zur Initiative “gegen Masseneinwanderung” bewegt die Menschen auch jenseits der helvetischen Grenzen. In einigen Reaktionen wird der Schweiz Rosinenpicken und Populismus vorgeworfen. Andere haben sie beglückwünscht. War der 9. Februar 2014 für die direkte Demokratie ein guter oder schlechter Tag?

Für Professor Wolf Linder, den ehemaligen Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern, ist jeder Tag, an dem Schweizerinnen und Schweizer das letzte Wort in der Politik haben, ein guter Tag. 

Die Schweizer Regierung hat festgelegt, wie sie bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative vorgehen will. Einen günstigen Ausgang für die Schweiz könne er allerdings nicht garantieren, sagte Bundespräsident Didier Burkhalter. Gleichzeitig rief er zu Ruhe auf, man dürfe jetzt nicht überreagieren.

Es gebe keinen Grund, für alles sofort eine Entscheidung zu erwarten, zumal die Schweiz vieles gar nicht selbst entscheiden könne. Die Befürchtungen, die in den letzten Tagen im Zusammenhang mit dem Forschungsrahmenabkommen “Horizon 2020”, dem “Human Brain Project” oder “Erasmus+” geäussert worden sind, hält Burkhalter jedoch nicht für unbegründet.

(Quelle: sda)

swissinfo.ch: Viele Ausländer beneiden uns um unsere direkte Demokratie. Bei Strassenumfragen in unseren Nachbarländern haben zahlreiche Leute den Schweizern gratuliert. Sind Sie als Schweizer stolz auf diesen Applaus?

Wolf Linder: Volksrechte waren immer Oppositionsrechte, vor allem gegen die Regierung, und vor allem in innenpolitischen Fragen. Heute haben wir eine Internationalisierung der Politik. Innen- und Aussenpolitik lassen sich nicht mehr scharf trennen. Deshalb haben die Schweizerinnen und Schweizer am Wochenende eine ganz neue Art der direkten Demokratie kennengelernt. Sie können Opposition machen gegen den Prozess der Globalisierung oder der Europäisierung.

Das kann man in keinem anderen europäischen Land. Und weil EU-Politik vor allem Elitepolitik mit beträchtlichen Demokratiedefiziten ist, verwundert es mich nicht, dass Leute aus anderen Ländern die Schweiz beglückwünschen.   

swissinfo.ch: Trotzdem gibt es in anderen Ländern keine erfolgreichen Bemühungen, unser System zu übernehmen. Warum?

W.L.: Direkte Demokratie ist kein Exportprodukt. Jedes Land hat seine eigene Tradition und Kultur. Direkte Demokratie einzuführen, ist schwierig, weil die politischen Eliten dabei einen Teil ihrer Entscheidungsmacht abgeben müssen. Es sind vor allem die politischen Eliten – Parlamentarier, Parteien -, die sich gegen jede Form von direkter Demokratie wehren, etwa mit dem Argument, das Volk sei überfordert.

Die EU-Minister verfassten am Dienstag eine gemeinsame Stellungnahme zur Annahme des Schweizer Stimmvolks der SVP-Initiative “gegen Masseneinwanderung”.

“Wir respektieren den Volksentscheid”, sagte der griechische Aussenminister Evangelos Venizelos, dessen Land zurzeit den Ratsvorsitz führt. Aber die Schweiz müsse sich auch an die mit der EU geschlossenen bilateralen Verträge halten. “Der Binnenmarkt und seine vier Pfeiler sind untrennbar”, heisst es in der Erklärung des Ministerrats. Es sei nicht möglich, eine Abspaltung der Personenfreizügigkeit von den anderen Freiheiten zu akzeptieren.

Wie bereits die EU-Kommission betonte er, dass diese auch für die EU-Mitgliedstaaten nicht verhandelbar sei. “Und zwar für alle, auch für meinen britischen Amtskollegen”, antwortete Venizelos auf eine Journalistenfrage. Denn der britische Premier David Cameron hatte sich selbst für eine Beschränkung der Zuwanderung stark gemacht.

Die Frage, ob die Minister auch über mögliche Sanktionen gegen die Schweiz gesprochen haben, verneinte der Aussenminister. Man werde nun erst einmal abwarten, wie es weiter gehe. Es gebe ja noch nicht einmal eine Anfrage der Schweiz für Neuverhandlungen.

In einer Anhörung im EU-Parlament äusserte sich zudem die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton zur Schweizer Volksabstimmung. Auch die grossen Schweizer Parteien hätten das Resultat der Abstimmung zur Masseneinwanderung nicht erwartet, sagte sie.

Diese müssten nun ebenfalls über die möglichen Konsequenzen nachdenken und sich in die Arbeit der Regierung zur Umsetzung der Initiative einbringen. Dabei machte Ashton deutlich, dass die Freizügigkeit ein fundamentales EU-Recht sei. Sie gab ihrer Hoffnung Ausdruck, mit der Schweiz “eine befriedigende Lösung zu finden”.

(Quelle: sda)

swissinfo.ch: Bei der Vorlage vom letzten Sonntag haben nicht einmal die Initianten gesagt, wie die Initiative umgesetzt werden soll. Also weiss man auch nicht, wie das Volk die Initiative umgesetzt haben möchte. Wie soll nun eine Regierung den Entscheid im Sinn des Volkes umsetzen?

W.L.: Mit der Initiative ist ein Grundentscheid in der Verfassung gefallen, der heisst: Wir möchten die Einwanderung, wie sie in den letzten Jahren stattgefunden hat, nicht fortsetzen. Die Art und Weise, wie sie umgesetzt werden kann, ist nun Sache des Bundesrats und des Parlaments.

swissinfo.ch: Es ist bereits eine Diskussion entbrannt über die Frage, welche Einwanderer gestoppt werden sollen: Alle ein bisschen? Die Qualifizierten weniger als die Nicht-Qualifizierten? Die Flüchtlinge überhaupt nicht oder nur die unechten? Was war dabei der Volkswille?

W.L. Das Volk hat wohl keine präzisen Vorstellungen, wo und wie gestoppt werden soll. Es geht nicht nur um die Personenfreizügigkeit mit der EU, sondern es ist ein delikates und sozial widersprüchliches Problem, wie die Einwanderung gesteuert werden soll.  

Verfassungsnormen sollen weder Zahlen, noch Instrumente genau benennen, sondern sind Grundentscheide, welche die Anpassung an die besonderen Umstände ermöglichen. Insofern ist die Initiative nicht zu beanstanden. Sie gibt Parlament und Bundesrat Flexibilität und politischen Handlungsspielraum.

Das Volk hat dann im zweiten Schritt wiederum die Möglichkeit, gegen gesetzliche Umsetzungsbestimmungen das Referendum zu ergreifen.

swissinfo.ch: Hat die direkte Demokratie dem bilateralen Weg ein Ende gesetzt?

W.L.: In gewisser Hinsicht ja. Wir haben aufgrund von  direktdemokratischen Abstimmungen den bilateralen Weg verfolgt. Das war ein riskanter Weg. Regierung und Parlament gingen davon aus, dass das Volk über jeden Vertrag abstimmen, aber nie Nein sagen darf. Jetzt hat das Volk halt trotzdem Nein gesagt, und damit ist der bilaterale Weg in Frage gestellt.

Weil aber beide Seiten, die Schweiz und die EU, ein Interesse haben, den bilateralen Weg irgendwie fortzusetzen, erwarte ich, dass der Bundesrat versuchen wird, die Personenfreizügigkeit als vereinbar mit der Kontingentierung darzustellen.

swissinfo.ch: Sie sind ein Verfechter der direkten Demokratie. Aber es gibt auch Missbrauchsgefahren. Wenn zum Beispiel unbegründet Ängste geschürt werden, oder jemand zum Sündenbock gemacht wird. Ist die Missbrauchsgefahr grösser geworden?

W.L.: Einige Experten befürchten, dass mit der Mediatisierung und Personalisierung der Politik die direkte Demokratie in Gefahr sei. Ich sehe das nicht so dramatisch, ausser in einem Punkt: Im 20. Jahrhundert haben die politischen Parteien dem Populismus wenig gefrönt. Heute haben wir mit gewissen Initiativen mehr Populismus bekommen. Das ist eine Gefahr für die direkte Demokratie, wenn nicht mehr sachlich diskutiert, sondern nur noch emotional mobilisiert wird.

swissinfo.ch: Mit welchen Mitteln kann man dem Missbrauch begegnen?

W.L.: Man muss auf die Selbststeuerungskraft des Systems vertrauen, dass die politischen Parteien ihre grosse Verantwortung wahrnehmen und der populistischen Versuchung nicht erliegen.

swissinfo.ch: Anfangs Woche haben sich am deutschen Staatsfernsehen der Schweizer Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, und der Deutsche Ralf Stegner, stellvertretender SPD-Vorsitzender, gegenseitig mangelndes Demokratieverständnis vorgeworfen. Ist die direkte Demokratie der Schweiz demokratischer als die repräsentative Demokratie Deutschlands?

W.L.: Ich wäre vorsichtig, die Systeme gegeneinander auszuspielen. In Deutschland haben die Wahlen eine grössere Bedeutung; sie führen zum Wechsel zwischen Regierung und Opposition. In der Schweiz haben wir Konkordanz, und deshalb bewirken die Wahlen bei uns weniger. Dafür haben wir eine direkte Demokratie, die authentische Entscheide ermöglicht.

Direkte Demokratie ist keine Alternative, sondern eine Ergänzung des parlamentarischen Systems – und damit ein Mehr an Demokratie.

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