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Das bedingungslose Grundeinkommen, “ein hochriskantes Spiel”

Swissinfo Redaktion

Das bedingungslose Grundeinkommen für alle, über das die Schweizerinnen und Schweizer am 5. Juni abstimmen werden, würde einen negativen Anreiz für Arbeit und Ausbildung schaffen, findet Rudolf Minsch. Gemäss dem Chefökonomen des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse würde das Grundeinkommen den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden und den Schweizer Finanzplatz ruinieren.

Baden im Geld auf dem Bundesplatz, Gratis-Zehnernoten am Zürcher Hauptbahnhof: Die Werbeaktionen für das bedingungslose Grundeinkommen versprechen den Schweizer Stimmbürgern eine goldene Zukunft. Die Idee: Wer materiell abgesichert ist, könne sich um die wirklich wichtigen Dinge im Leben kümmern und seine Talente voll zur Entfaltung bringen. Er diene damit nicht nur sich selbst, sondern bereichere auch die Gesellschaft.

Rudolf Minsch, 49 Jahre alt, Chefökonom und stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsleitung von Economiesuisse. Er ist darüber hinaus Gastprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur, wo er vor seiner Tätigkeit bei Economiesuisse Vollzeitprofessor war. Minsch ist Doktor in Wirtschaftswissenschaften und hat an den Universitäten von St. Gallen und Boston studiert. Keystone
Soweit die Utopie. Doch weder funktionieren die einzelnen Menschen noch unsere Gesellschaft als Ganzes so, wie sich die Initianten das vorstellen. Wenn der Staat jedem Einzelnen ein monatliches Einkommen zusichert, das ihm gemäss Initiativtext „ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben“ ermöglichen muss, stellt das unser Verhältnis zur Arbeit auf den Kopf.

Die Regel, dass grundsätzlich jeder Erwachsene selbst für seinen Lebensunterhalt verantwortlich ist, würde erstmals in der Menschheitsgeschichte ausser Kraft gesetzt. Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass manche diese neue Freiheit verantwortungsvoll nutzen würden – etwa für eine Weiterbildung oder die Gründung eines eigenen Unternehmens. Doch der Anreiz geht in eine andere Richtung: Warum nicht einfach zwei oder drei Gänge zurückschalten? Oder den Bettel hinwerfen, wenn ein mühsames Projekt ansteht? Teilzeitarbeit würde sich erst recht nicht mehr lohnen. Wer vom Arbeitgeber nicht deutlich mehr als die vorgesehenen 2500 Grundeinkommen ausbezahlt bekommt, wird zuhause bleiben.

Geradezu unverantwortlich wäre ein Grundeinkommen für junge Menschen, denn ein Grundeinkommen reduziert den Anreiz, überhaupt in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Der Nutzen einer langen und unter Umständen sehr anstrengenden Ausbildung relativiert sich stark, wenn man in derselben Zeit auch einfach seinen Hobbies nachgehen kann, ohne in einen finanziellen Engpass zu geraten. Damit führt das Grundeinkommen aber auch in ein moralisches Dilemma: Ist unsere Gesellschaft bereit, den Lebensunterhalt von Personen zu finanzieren, die nichts zu dieser Gesellschaft beitragen wollen, obwohl sie das problemlos könnten? Mit Solidarität hat dies nichts zu tun. Ein derart asoziales System gefährdet letztlich den Zusammenhalt der Gesellschaft.

In diesem Punkt unterscheidet sich die vorliegende Initiative von allen anderen Projekten, die bislang punkto Grundeinkommen angestossen worden sind. Einige niederländische Städte zahlen ausgewählten alleinstehenden Sozialhilfeempfängern seit Anfang 2016 ein monatliches Grundeinkommen von 900 Euro aus. Wenn damit andere Sozialleistungen abgelöst werden, kann dies durchaus Sinn machen. Ein allgemeines Grundeinkommen für Jedermann ist das aber nicht. Auch die finnische Regierung wälzt ähnliche Ideen: Ein Grundeinkommen von 800 Euro, um die Sozialwerke zu entlasten und die Bürokratie zu verringern. Wohlgemerkt handelt sich dabei um ein ziemlich radikales Sparprogramm.

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Ganz anders in der Schweiz: Hier würde ein monatliches Grundeinkommen von 2500 Franken pro Erwachsenen und 625 Franken pro Kind zu horrenden Mehrkosten führen. Zwar wollen die Initianten auch bei uns die bisherigen Sozialwerke weitgehend abschaffen. Doch deren Zahlungen übertreffen heute in vielen Fällen das vorgesehene Grundeinkommen, weshalb sie samt der zugehörigen Bürokratie erhalten werden müssten. Oder wollen Sie, dass eine schwer behinderte Person mit 2‘500 Franken auskommen muss? Oder wäre es fair, dass die Arbeitslosigkeit nicht mehr richtig versichert wird?

Zur Finanzierung ihrer Vision wollen die Befürworter deshalb wahlweise die Mehrwertsteuer massiv erhöhen oder eine Finanztransaktionssteuer einführen. Beides hätte für den heute so wettbewerbsfähigen, weltoffenen Wirtschaftsstandort Schweiz fatale Folgen. Wir leben bereits heute auf einer Hochpreisinsel – eine markant höhere Mehrwertsteuer würde den Einkaufstourismus in ungeahnte Höhen treiben und viele KMU aus dem Markt werfen. Die Finanztransaktionssteuer, auf nationaler Ebene eingeführt, würde hingegen den Schweizer Finanzplatz ruinieren.

Es ist deshalb ein hochriskantes Spiel, auf das sich die Initianten da eingelassen haben. Das goldene Rund, das sie auf ihren Plakaten präsentieren, ist in der Realität ein tiefschwarzes Loch.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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