Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die Schweizer Stimme von Wisconsin geht vom Sender

Bernet ging letztmals am 11. Mai auf WEKZ radio "on air", genau 60 Jahre nach ihrer ersten Sendung. Annina Bosshard

Martha Bernet machte in Monroe, Wisconsin, der US-Hauptstadt des Schweizer Käses, sechs Jahrzehnte lang Radiosendungen über Schweizer Volksmusik. Um auf ihre bemerkenswerte Karriere zurückzublicken, veröffentlichen wir dieses Porträt, das im Buch "Westward - Encounters with Swiss American Women" 2009 erschienen ist.

Sie beherrscht ihr Metier am Mischpult: “Good afternoon, it’s time for our Swiss folklore program on station WEKZ. I hope you find time to listen.” Radiomachen gehört seit fünfzig Jahren zu Martha Bernets Leben. Letztes Jahr schenkte ihr das Radioteam eine Reise in die Schweiz. “You are our calling card!”, sagen sie, “du bist unsere Visitenkarte!”

Originaltext aus dem Buch der Autorin Susann Bosshard-KälinExterner Link“Westwärts – Begegnungen mit Amerika-Schweizerinnen”Externer Link mit zwei historischen Beiträgen des Auswanderungs-Spezialisten Leo Schelbert und Fotos von Annina Bosshard; 2009; Druckerei Kälin, Einsiedeln; erschienen im eFeF-Verlag Bern/Wettingen

Auf der Homepage des Lokalsenders in Monroe, wird sie “everybody’s Swiss sweetheart” genannt. Martha gehört einfach dazu, zur mehrheitlich jungen Studio-Crew. Niemand würde ihr die 81 Jahre ansehen, wenn sie flink die Treppenstufen ins Studio hinaufeilt. “Ich mache das letzte Schweizer Radioprogramm im ganzen Land, an sechs Tagen der Woche, von eins bis halb zwei.” Mit 78er-Platten hat sie Mitte der Fünfzigerjahre angefangen. Damals, als ihr Vorgänger nach einem schweren Autounfall sie bat, beim Moderieren auszuhelfen. “Ich hätte nie gedacht, dass ich am Radiomachen so viel Freude haben könnte.” Nach den 45er- und 33er-Platten sind es heute ihre eigenen CDs, die sie für Heimwehschweizer in den USA auflegt.

“Ich produziere immer zwei Wochen im Voraus, sage alle Stücke auf Schweizerdeutsch an und übersetze sie – bei ‘Mischtchratzerli’ ist es allerdings etwas schwierig! Am Schluss meiner Sendung verabschiede ich mich auf Schweizerdeutsch: ‘Sisch wider alls für hüt. Ig hoffä, z’Programm heig Euch gfallä. Uf Widerlose, morn zur gliiche Zyt.'” Martha Bernets Fangemeinde reicht über Wisconsin hinaus. “Ich bekomme Mails aus Texas oder Chicago, sogar aus Seattle. Von Leuten, die meine Volksmusik via Computer hören. Ach, wie tät ich das Radio vermissen, wenn ich’s nicht mehr hätte!”

Martha lädt zu Kaffee und Kuchen in ihr “Swiss Chalet” in Monroe ein. Künstliche rote Geranien zieren die Fenster; vor dem Eingang steht eine mehrere Meter hohe Fichte, die sie vor Jahrzehnten als Geschenk aus der Schweiz bekam. Ihr Bruder hatte sie in die Staaten geschmuggelt. Sie berichtet in breitem Berner Oberländer-Dialekt, hat nichts von ihrer Muttersprache vergessen.

“Ich bin eben zum fünfunddreissigsten Mal draussen gewesen. Ich sage draussen, wenn ich die Schweiz meine. Es ist ein Tusigs-züüg. Ich bin nach sechzig Jahren noch immer an beiden Orten daheim.” Voller Stolz erzählt sie, dass sie sich jeden Tag vor dem Frühstück auf www.meielisalp.ch einloggt. “So weiss ich, wie das Wetter dort ist. Der Blick, die Berner Zeitung und der Oberländer sind meine täglichen Internet-News.”

Dabei weigerte sich Martha lange, mit dem Computer zu arbeiten. “Bei einem Nachtessen mit meinen Kindern machte ich vor Jahren so nebenbei die Bemerkung, ich würde jeden Tag dümmer. Ich würde mein Gehirn zu wenig brauchen. Und schon hatte ich einen Computer im Haus samt Instruktion meines ältesten Sohnes! Und heute – was würde ich ohne E-Mail und World Wide Web tun?”

Schweizer Geschichte

In der Küche hängt eine Flugaufnahme des Thunersees an der Wand über der Eckbank. “Weil das Bild in der Breite nicht in den Koffer passte, hat mein Neffe Interlaken abgeschnitten. Hauptsache, Leissigen ist drauf!” Wohin das Auge reicht, ist Marthas Haus voll von Bernischem: bemaltes Töpfergeschirr, Anker-Bilder, geschnitzte Möbel und kleine Kühe.

“Jetzt fliege ich nicht mehr in die Schweiz. Als ich das letzte Mal die Gasse hinuntergelaufen bin, mein Elternhaus und bald auch der See aus meinem Blick verschwanden, gab es mir schon einen Stich ins Herz. Aber ich sagte mir: Martha, du hast bis jetzt immer alles geschafft. Du kannst auch das. Wissen Sie, ich bin eben auch Amerikanerin. Meine Freunde in der Schweiz, mit denen ich in die Schule ging, die sind weggezogen, die alten Leute im Dorf sind gestorben.”

Martha erzählt von ihren Lebensstationen. “Geboren bin ich in Leissigen am Thunersee, am 16. April 1927. Aufgewachsen mit zwei Schwestern und zwei Brüdern. Ich war die Jüngste, die Verwöhnteste. Mein ältester Bruder war schon 18, als ich auf die Welt kam. Wir waren wie zwei Familien. Mutter sagte immer: ‘Gottlob hatten wir euch drei später; so bin ich jung geblieben.'” Vater Ruedi war Mechaniker und der Zivilstandsbeamte im Dorf, die Mutter, Frieda, Damenschneiderin.

Viel lieber als Hausmädchen wäre Martha Handarbeitslehrerin geworden. (1941) Martha Bernet

Martha schmunzelt: “Fragen Sie mich nicht, was ich gestern Mittag gegessen habe – aber von früher, da weiss ich noch so vieles.” Und dann blitzen ihre Augen verschmitzt: “Zum Beispiel als ich daheim ausriss, mit sechs Jahren. Mutter hatte mich zurechtgewiesen: ‘Ich will dich nicht mehr. Wenn du nicht folgen kannst, so geh.’ Prompt spazierte ich in der Schürze, die ziemlich schmutzig war, zum Bahnhof und stieg in den nächsten Zug. Sagte dem Kondukteur, ich müsse nach Müntschemier zur Tante. In Bern müsse ich die Treppe hinunter, und da stehe jeweils eine Frau in einer blauen Schürze, eine ‘Freundin junger Mädchen’›. Die würde mich auf den Zug bringen. Ein Billett brauchte ich nicht, und der Kondukteur führte mich im Berner Bahnhof zu einer dieser Frauen, die tatsächlich mit mir auf den Anschluss nach Müntschemier wartete. So etwas war damals noch möglich. Niemand hatte Verdacht geschöpft, weil ich so sicher aufgetreten war und den Weg von den Reisen mit meiner Mutter kannte. Aber meine Tante war schockiert, als ich in Müntschemier alleine auf der Türschwelle stand. Wo denn die Mutter sei? Daheim; sie wolle mich nicht mehr. Vielleicht, Tante, willst du mich noch? Ich hoffte, meiner Mutter Angst eingejagt zu haben. Ja Pfeifendeckel! Sie schickte mir das Wäschekörbchen und holte mich erst drei Wochen später wieder ab.”

Einen Kindergarten gab es für das aufgeweckte Mädchen in Leissigen damals nicht. “Mit sieben Jahren konnte ich endlich in die Schule. Zu Fräulein Frutiger. Ich telefoniere noch heute regelmässig mit ihr. Sie ist mittlerweile 92-jährig. Eine junge Lehrerin, das war damals wunderbar. Ich habe immer leicht gelernt.”

Marthas Kindheit war geprägt vom Krieg. “Es war ein grosses Durcheinander. Im Haus hatten wir Militär einquartiert. Die ganzen Jahre hindurch. An drei Orten im Dorf pflanzten wir an; in jeder Blumenrabatte wuchsen Gemüse und Kartoffeln. In unserem Haushalt gab es nur wenig Fett, wegen der Rationierung – alles war aus dem Wasser gezogen, keine Butterrösti mehr und nur noch einen Liter Milch statt vier im Tag. Es gab 125 Gramm Butter pro Person im Monat, 1 Pfund Mehl, 1 Pfund Zucker, 1 Pfund Teigwaren, W Pfund Kaffee oder Tee im Monat. Ich weiss es noch genau. Wir haben eingekocht, was wir konnten, gedörrt auch. Anstelle von Schokolade assen wir gedörrte Apfel- und Birnenschnitze. Frisches Brot gab es nicht zu kaufen, und Reis haben wir während des ganzen Krieges keinen gesehen. Dafür wurde in unserem Haus immer gesungen, und hungern mussten wir nie.”

“Mädi”, so wurde die Jüngste im Zumstein-Haus genannt, lernte von den Soldaten jassen. Das sollte ihr eine Schelte des Lehrers einbringen, die sie nie vergass. “War das vielleicht ungerecht, als der Oberlehrer eines Morgens in der 9. Klasse drohend auf mich zukam: ‘Martha, du hast mit den Soldaten bis Mitternacht gejasst. Ich weiss es genau!’ – ‘Nein, Herr Lehrer, das hab ich nicht. Das weiss ja jeder Löu, dass die Soldaten um halb zehn Uhr schlafen gehen müssen.’ Es gab ein grosses Theater daheim. Ich hätte mich beim Lehrer für mein freches Mundwerk entschuldigen sollen. Aber das konnte ich nicht. Ich hatte ja nichts Falsches gesagt!”

Handorgelspielen hat sich Martha selber beigebracht. “Ich verzog mich jeweils zuoberst ins Haus, wo mich niemand hörte. Habe einfach die Töne gesucht, zu denen ich gesungen und gejodelt habe. Hier sagt man dem chording – diesem Begleiten in Akkorden. Es ging nicht lange, und ich konnte die Tonarten unterscheiden. Eines Tages, im Sommer, ich hatte das Estrichfenster offen gelassen, hörte ich, wie die Nachbarin zu ihrem Mann sagte: ‘Stell das Radio an, es kommt volkstümliche Musik.’ Offenbar spielte ich so gut!”

Nach Schulabschluss kam sie mit fünfzehneinhalb Jahren als Dienstmädchen zu einer Familie ins Welschland. “Durch die ‘Freundinnen junger Mädchen’. Zuerst nach Peseux im Sommer, dann nach La Chaux-de-Fonds im Winter, wo ich nebst dem Haushalten lernte, escargots zu essen, Schnecken.” Viel lieber als Hausmädchen wäre Martha allerdings Handarbeitslehrerin geworden. “Aber Vater fand, meinen Geschwistern gegenüber sei eine solche Ausbildung nicht gerecht. Fritz konnte Mechaniker werden, Elisabeth Schneiderin. Sie benötigten jeweils nur drei Ausbildungsjahre. Und ich hätte vier Jahre nach Bern in die Schule gehen müssen.”

Die Liebesgeschichte

So reichte es für Martha mit 16 Jahren zu einer Bürolehre in Interlaken. “Zweimal täglich fuhr ich mit dem Zug zwischen Leissigen und Interlaken hin und her. Dass diese Zugfahrten zu meinem Schicksal werden sollten, hätte ich nie gedacht.” Mit einer gehässigen Auseinandersetzung um ein offenes Abteilfenster in der dritten Klasse der Bern-Lötschberg-Simplonbahn (BLS) begann sie, die Liebesgeschichte.

“Der junge BLS-Kondukteur massregelte mich, weil ich bei frostigem Winterwetter das Fenster herunterliess, um den Thunersee zu sehen und Luft ins stickige Abteil zu bringen. ‘Was fällt Euch ein! Schämt Euch, wir heizen!’ Und er knallte das Fenster zu. Ich fand das eine Frechheit. Erst bei der Arbeit im Büro dachte ich darüber nach, dass er ja eigentlich recht hatte. Kleinlaut entschuldigte ich mich anderntags auf der Zugfahrt bei ihm. Von da weg grüssten wir uns jeweils besonders herzlich. Er gefiel mir, und wir hatten hie und da einen kurzen Schwatz, blieben aber korrekt bei der Sie-Form, Herr Werner Bernet und ich. Nach und nach erfuhr ich mehr über sein Leben: Aus einer 17-köpfigen Grindelwalder-Familie waren sein Vater mit Frau und Kindern 1927 in die Gegend von Wisconsin, USA, ausgewandert, wo Vater Christian in einer Käserei arbeitete. Die Kinder, Werner und Trudi, besuchten dort die Schule, bis der Vater 1939 erkrankte, der Arzt eine Auszeit in der Schweiz empfahl.

Im Herbst 1939 wollte Werner mit seiner Familie nach Amerika zurückkehren – er hatte drüben ein vierjähriges Stipendium als Förster im Sack. Die Kriegsmobilmachung am 1. September machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Als Schweizer musste er in die Rekrutenschule. Nach dem Dienst und noch während der Kriegsjahre lernte er im Welschland Französisch und erhielt dann aus 300 Bewerbern eine der sechs ausgeschriebenen, begehrten Stellen als Kondukteur bei der BLS.

Eines Tages, ich war im zweiten Lehrjahr und achtzehn, fragte er mich im Zug kurz vor Interlaken: ‘Was macht Ihr am Sonntag?’ Er lud mich auf die Kleine Scheidegg ein. Es wäre schön, dachte ich, musste aber Mutter fragen, ob sie mir das Billett zahlen würde. Die Wanderung durch die Bonera war unvergesslich und romantisch. Wir haben unter dem Eiger Duzis gemacht. ‘Wenn man einander so gut kennt, sagt man sich doch nicht mehr Fräulein und Herr.

I bi dä Werner und du bisch z’Marti.’ Ich habe auch ein Müntschi bekommen. Ja, unter dem Eiger. Und wenn ich jetzt jeweils ins Internet schaue, denke ich, ja, unter dem Eiger…!”

1946 wollte die Familie Bernet zurück nach USA. “Ich war fertig mit der Lehre. Werner und ich hatten noch immer Bekanntschaft; so sagte man damals. Aber für ihn war von Anfang an klar: er wollte wieder in die USA. ‹Wenn du nicht mit mir kommst, dann hören wir sofort auf.’ – Ich versicherte ihm, ich wolle mitgehen.

Plötzlich hiess es, wenn wir innert sechs Wochen heiraten würden, könne ich mitgehen. Sonst müsse ich weitere zweieinhalb Jahre auf meine Bewilligung warten. Ich war überrumpelt, erst gut neunzehnjährig. Damals musste man zwanzig sein, um bei der Heirat unterschreiben zu dürfen. Unsere Eltern haben das Ganze zusammen besprochen. Und der Ätti sagte schliesslich: ‘Wenn Werner ebenso jung wäre wie du, würde ich nicht unterschreiben. Aber er ist zehn Jahre älter und kein junger, dummer Löli mehr.’

Werner wusste noch nichts von diesem Bescheid, und ich wollte ihn, als er in Spiez zwischen zwei Zügen eine Stunde frei hatte, überraschen. ‘Du, Werner, wir müssen sofort heiraten!’ Er schaute mich mit grossen Augen an: ‘Aber nicht mit mir…!’ Und ich lachte ihn aus und sagte: ‘Blödsinn, wir müssen heiraten, damit ich mit dir nach Amerika auswandern kann!'”

In Eile heirateten sie im November 1946. “Zeit, eine Aussteuer anzuschaffen, hatte ich nicht. Und die könnten wir nicht auch noch mitnehmen, hiess es.” Aber dann stockte alles. “Jedes Mal, wenn wir hätten gehen können, kamen andere dran, und wir wurden zurückgestellt. Es wurde Winter und Frühling, und Werners Eltern übernahmen schliesslich das Niesenbahn-Restaurant für die Sommersaison. Ich nahm keine Stelle mehr an, servierte im Betrieb meiner Schwiegereltern. Und dann wären am 2. Oktober 1947 unsere Visa abgelaufen.”

Werner hatte genug. Anfang September entschied er, seinen Götti anzurufen, Bundesrat Nobs, Vaters Cousin. Auf einmal ging alles sehr schnell. “Am Mittwoch rief er an, Donnerstag um zehn waren wir beide schon im Bundeshaus, und um vierzehn Uhr hatten wir die Ausreisepapiere.” Bis zum kommenden Sonntag musste alles gepackt und reisefertig sein; der Pachtbetrieb war glücklicherweise bereits abgegeben. “Aber vier Tage, das war doch sehr knapp. Vater sagte zu mir: ‘Und die Handorgel, willst du die nicht mitnehmen? Man weiss nie’› Meine Kleider packte ich ein und ein paar Andenken – das Büchlein mit den Geburtstagswünschen meiner Schulkameradinnen, mein Tassli. Aber die Handorgel war zusammen mit meinem Mann das Liebste, was ich mitnahm!”

Mit sechzehn grossen Gepäckstücken wanderte die sechsköpfige Bernet-Familie, Eltern, Werner und Martha sowie seine geschiedene Schwester mit dem kleinen Kind, an jenem Sonntag wieder nach Amerika aus. Erst mit dem Zug nach Genua, dann übers Meer Richtung New York.Der Abschied von daheim war schwierig. “Am Morgen unserer Abfahrt gingen wir in Leissigen noch in die Predigt und auf den Friedhof. Mein ältester Bruder war im Mai 1946 an einer Nierenschrumpfung gestorben. Ich höre meine Mutter heute noch am Grab mit leerer Stimme klagen, ‘hier im Grab haben wir den Ältesten, und heute geht die Jüngste nach Amerika.’ Das war hart. Das war wirklich hart. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich meine Mutter verliess.Vater zeigte seine Gefühle weniger; aber schon auf dem Trittbrett des Zugs, hörte ich ihn noch rufen: ‘Gäll, du singst weiter! Dann kommt alles gut.’ Als ich aus dem Zugfenster zurückschaute, sah ich, wie Mutter in den Armen meines Vaters ­zusammensank. Solche Bilder vergesse ich nie.”

Amerikanisches Leben

Auf dem Atlantik war Martha schwer seekrank. Die Tage auf offener See hat sie in denkbar schlechter Erinnerung. “Bei der Ankunft in New York hatte ich Glück, dass sie mich nicht impften. Das hatte mir der Schweizer Arzt nämlich verboten, weil ich drei Wochen vor der Abreise noch den Blinddarm hatte herausnehmen lassen müssen.” Werner und Martha beabsichtigten, nach Colorado, in die Berge zu ziehen. Aber die Schwiegermutter wollte zurück nach Wisconsin, und Werner konnte die Eltern nicht alleine dort lassen. In Juda, Wisconsin, liess er sich in einer Käserei anstellen. Er wollte wieder Schweizer Käse machen, Emmentaler.

“Und ich, das verwöhnte Bürofräulein, musste putzen, kochen, waschen und arbeiten wie ein Knecht. Im März, anderthalb Jahre nach unserer Hochzeit, wurde unser erster Sohn, Hans, geboren. Das Leben war hart. Gar nicht lustig. Ich habe oft die Zähne zusammengebissen. Englisch konnte ich nicht. Wir waren auf dem Land draussen. Die Sommer waren furchtbar heiss und feucht. Klimaanlagen hatten wir noch nicht. Wir krampften. Ich wog nur noch 89 Pfund. Werner sagte: ‘Wenn du 85 Pfund wiegst, kehren wir in die Schweiz zurück’. Aber das gab mein Grind nicht zu. Ich hörte schon die Leute lästern: ‘Da wollen die nach Amerika, und jetzt müssen sie schon wieder umkehren.’

Ich sagte mir: Es kommt dann schon besser.” Bis im Herbst hatte sie wieder Appetit und fand sich langsam zurecht. “Für den Charakter war es nicht das Schlechteste. Ich lernte viel. Wenn du den Willen hast, dann geht es. Ich versuchte, mich zusammenzunehmen. Aber ich hatte Heimweh, weinte, wenn es niemand sah. Ich wollte auf keinen Fall, dass Werner mitbekam, wie ich litt.

Und draussen Maisfelder, soweit das Auge reichte, nur Maisfelder. Ich stellte mir vor, dass dahinter Berge am Horizont seien. Aber es waren eben keine da. Ich habe viel, viel geweint.”

Die kleine Familie zügelte nach Jordan Valley. “Dort hatten wir ein Häuschen für uns. Ich musste nicht mehr so streng mithelfen, sondern konnte mich dem Kleinen widmen, bald auch ­meinem zweiten Baby, Tochter Käthi.” Doch Werner suchte nach etwas Eigenem. “In Dutch kaufte er vom Ersparten eine Käserei. Ich musste wieder viel und hart arbeiten. Aber diesmal ging alles in die eigene Kasse. Ich habe gern gekäset. Als die Kinder noch klein waren, setzten wir sie hie und da in ein grosses Käsekessi, das wir mit einer Decke polsterten. Die spielten dort drin. Heute würde man sagen – that’s child abuse, das darf man nicht. Aber es ging gut.”

Die Bernets produzierten Emmentaler für eine grosse Firma in New York. “Vier Laibe pro Tag, jeder neunzig Kilogramm schwer. Mit learning by doing wurde ich zum Käserknecht. Morgens um vier Uhr aufstehen war für mich an der Tagesordnung. Ich putzte jeden Tag 84 Zentrifugenteller. Und eines Tages dachte ich, was machen die Käserknechte, wenn sie Durst haben? Sie trinken ein Bier. Das tat ich unten im Keller dann auch. Und ich wurde so müde, dass ich auf der Käsepresse einschlief… ‘Willst du ein Bier…?’, hänselte mich Werner noch jahrelang!”

Sohn Peter kam 1956 auf die Welt. “Ich arbeitete bis zum Tag seiner Geburt. Um zehn nach fünf traf ich im Spital ein, und um sechs Uhr war das Zehn-Pfund-Kind schon auf der Welt!” Mit Peter reiste sie bald darauf zum ersten Mal in ihre alte Heimat. “Zum ersten Mal in meinem Leben flog ich. Es war eine unendlich lange, 22-stündige Reise. Von Chicago Midway vier Stunden nach New York. Und nach mühsamem Warten auf die Swissair-Maschine endlich der Abflug. Wegen eines Schneesturms mussten wir auf einem amerikanischen Flugplatz weit oben in Grönland zwischenlanden. Bei minus 40 Grad Aussentemperatur.”

Die Wochen daheim in der Schweiz waren wunderbar für Martha. “Meine Eltern sagten immer wieder, wie still es bei ihnen geworden sei, seit meiner Auswanderung. Dass niemand sie mehr zum Lachen bringe. Ich reiste wenig herum, blieb die meiste Zeit mit meinem Bub in Leissigen. Für ihn waren die Schwellen im Haus ein Spass; so etwas gab es in Amerika nicht. Und ich genoss die Zeit bei meinen Eltern. Die Leute, die mich sehen wollten, sollten zu mir kommen, sagte ich mir.”

Werner holte seine kleine Familie nach der Rückreise auf dem O’Hare-Flugplatz in Chicago ab. “Weit und breit war keine Spur von einem grossen Flughafengebäude. Einzig ein Häuschen stand dort, wo Werner eine Tasse Kaffee trank, bis er uns direkt an der Flugzeugtreppe umarmen konnte.”

Die wirtschaftliche Lage wurde für die kleinen Käsereien Anfang der 50er-Jahre schwierig. Grosse Trucks waren im Einsatz und holten die Konsummilch in Zentren ab. “Wir verkauften die Käserei, und Werner arbeitete eine Zeitlang bei seinem Cousin auf einer Milchfarm, bis uns in Monroe ein kleiner Spezereiladen angeboten wurde. Wir packten die Chance und hatten mit ‘Bernet’s Cheese and Sausage Shop’ bald sieben Tage die Woche offen. Ich trat dem Kirchenchor bei, konnte endlich wieder singen.”

Martha gehörte 1967 auch zu den Gründerinnen des Schweizer Clubs Monroe mit über vierhundert Mitgliedern. “Jetzt gibt es ihn nicht mehr. Die Leute sind alle gestorben. In den 50er- und 60er-Jahren kamen noch viele Westeuropäer und eben auch Schweizer. Wir sind bald die letzten, die übrig sind.”

10’000 Kuhglocken jährlich importierten die Bernets in den besten Zeiten für ihren Laden, Tobler-Schokolade und Knorr-Suppen. “Ich brachte erstmals Aromat nach Monroe. Die Probelieferung mit 24 Büchsen war ein durchschlagender Erfolg. Jetzt gibt’s Aromat in ganz USA.” Bretzeleisen, Sensen, Musikhäuschen boten sie an – aber Käse und Wurst blieben die Spezialität der Bernets. Martha liebte den Betrieb. “Unser Lädeli lag hinter einem Restaurant. 1957 zahlten wir 25 Dollar Miete – Heizung und Warmwasser inbegriffen. Wir hätten ein paar Mal an den Square von Monroe zügeln können, aber wir haben gut geschäftet, dort, wo wir waren.”

1959 kam wieder ein Bub auf die Welt, der Ruedi. Und immer wieder reiste die geschäftstüchtige Martha in die Schweiz, um Waren für den Laden einzukaufen. 1973 gewannen die Bernets eine Reise in die Schweiz. “Von Chocolat Tobler. Nicht weil wir am meisten Schokolade verkauften, sondern weil wir in unserem Laden eine besonders schöne Schokoladeausstellung hatten. Werner liess sich im ‘Berner Kühermutz’ mit schwarzer Hose und schwarzem Trachtenhut und ich mich in der Festtagstracht fotografieren.” Zum ersten Mal ­machten beide zusammen Ferien und schlossen den Laden für eine Woche. “Das war was, mit unserer 40-köpfigen Reisegruppe!

1973 gewannen die Bernets für ihren attraktiv eingerichteten Laden eine Reise in die Schweiz. Martha Bernet

In Bern logierten wir im Hotel Bellevue Palace, in einem Zimmer mit seidenem Bettüberwurf und Kristallleuchter an der Decke. Aber die Matratzen waren so weich, dass ich mich zum Schlafen auf den Boden legte. Als ich um fünf Uhr morgens erwachte, war kein Werner im Bett – der schlief ebenfalls auf dem Boden! Wir hatten eine wunderbare Zeit. Am Abend durfte ich jeweils im langen Kleid zum Essen gehen. Werner stellte mir dann den Stuhl hin. Wie ein Gentleman. ‘Du musst nicht meinen, dass ich das dann daheim auch noch mache…’ schmunzelte er augenzwinkernd. Mich freute, dass er wenigstens wusste, wie man es macht.”

Ende der 70er-Jahre fragte ein Schweizer Quartett bei Martha an, ob sie mitsingen wolle. “So kam ich zu den ‘Edelweiss Stars of Monro’› – wir sind in den 80ern und 90ern in der ganzen Region aufgetreten, hatten einen Namen. Am ersten August und an Festtagen sangen und jodelten wir. Mit einer Frau, die mich im Laden vertrat, ging das gut.”

Im Jahr 1983 verkauften die Bernets ihr Geschäft. “Werner war 65. Ein Jahr lang unternahmen wir Reisen, in die Schweiz und zu meiner Tochter, die mittlerweile in Kanada lebte. 1984, nach der gelungenen 1. August-Feier, stand mein Mann am Morgen nicht mehr auf. War das ein unglaublicher Schreck! Er lag tot im Bett. Dabei war er doch nie krank gewesen. Er hatte keinen Herzinfarkt. Sein Atem hatte einfach ausgesetzt. Er ist gegangen. Ohne mir Adieu zu sagen. Das war schwer. Erst später erinnerte ich mich, dass er am 1. August-Abend auf einer Treppe sass und mich beim Handorgelspielen so anschaute, als würde er Abschied nehmen. Meine Schwester, die auf Besuch war, sagte auf dem Heimweg: ‘Der Werner ist noch in dich verliebt wie damals.’ So sagte er mir Adieu. Es war schlimm. Ganz schlimm. Unser Hochzeitstag, kein ­Werner, sein Geburtstag, kein Werner, Weihnachten wieder keiner. Ich wollte es nicht glauben. Erst nach fünf Jahren konnte ich wieder sagen, ich geniesse das Leben. Aber vergessen kann ich ihn nie. Ich sitze noch heute, nach über 25 Jahren, am Küchentisch, schaue den leeren Stuhl an und habe Langezeit nach Werner. Glücklicherweise hatte ich damals schon mein Radioprogramm.

Nein, ich hätte später nicht mehr heiraten können. Natürlich gab es Tage, da hätte ich ihn auf den Mond schiessen können. Ohne Retourbillett! Ich meine, das gibt es in jeder Ehe! Aber er hat mir dann doch sehr gefehlt.” Das Leben ging für Martha weiter. 1985 war sie mit den ‘Edelweiss Stars’ einen Monat in der Schweiz – am Eidgenössischen­Jodlerfest und bei vielen anderen Anlässen.

“Die Schweizer Kultur hier in Wisconsin aufrechtzuerhalten ist schwierig. Ich bin achtzig. Bin nicht mehr so lange da. Das Donner Trudi ist vierundachtzig, Affolter Margrit fünfundachtzig. Die kamen zur gleichen Zeit nach Amerika wie ich; damals konnte ich im Laden am Square schweizerdeutsch reden. Doch die Schweizer­Spuren verschwinden. Das sieht man auch im Telefonbuch. Früher waren rund 80 Prozent der Einträge Schweizer Namen. Jetzt sind sie weg. Wenn man heute nach Monroe kommt, ist Swissness nur noch Fassade.

Andererseits, ich fühle mich schon auch als Amerikanerin. Ich habe Freunde hier und war lange im Kirchenchor, vierundvierzig Jahre lang. Unsere Kirche ist nur aktiv, weil wir als Mitglieder dazu beitragen. Wir haben zwei Pfarrer angestellt und ein Budget von 400’000 Dollar im Jahr. Ich gehöre zum Altarkomitee und zur Gruppe, die das Abendmahl bereitstellt. Daheim in Leissigen, in einem der ältesten Kirchlein der Schweiz, gingen an einem Sonntag zwanzig Personen in die Kirche. Hier haben wir jeden Sonntag drei Predigten – es kommen achthundert Leute. Warum? Man ist hier nicht näher beim Herrgott. Aber der Kirchenbesuch ist ein gesellschaftlicher Anlass. Zwischen den Predigten gibt es Kaffee und Kuchen, Guetzli und Käse – man erzählt sich das Neueste.”

Martha schwenkt sichtlich stolz zu ihren Kindern: “Der Hans ist sechzig, hat ein Studium als Lehrer gemacht, ist aber heute Geschäftsführer des Versandhauses Swiss Colony. Sie vertreiben per Katalog und Internet Käse und Schweizer Spezialitäten in den USA. Käthi ist achtundfünfzig; sie ist mit einem Hockeyspieler aus Kanada verheiratet und lebte mit ihren Kindern mehrere Jahre in den Northwest Territories, weit oben in der Arktis. Peter wohnt in Washington als Analyst. Und Ruedi, der Jüngste, ist Sportlehrer hier in Monroe. Ich habe eine fröhliche Seite, auch wenn ich ab und zu hart zu beissen hatte. Ich hab immer gesungen und gelacht. Die Leute fragen manchmal: ‘Marteli, weisst du keinen neuen Witz?’ Werner war eher der Pessimist. Ich riet ihm, er solle auch ein Hobby pflegen. Seine Antwort war, ‘ich hab ja eins: Dich!’ Er unterstützte mich, bei meinem Radioengagement und bei den Auftritten. Und sagte: ‘Ohne dich wäre es nicht gegangen.’ Es ist wahr, wir haben immer zusammen am Karren gezogen. Ich hatte ein interessantes Leben und habe heute noch viele liebe Leute um mich herum. Einmal in der Woche jassen wir zu viert. Zwei Männer, zwei Frauen. Die Männer meinen immer, sie könnten es besser.”

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