Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Der Goldene Leopard geht mit „Godless“ nach Bulgarien

Die bulgarische Regisseurin Ralitza Petrova hat für ihren Spielfilmerstling "Godless" (Ohne Gott) den Goldenen Leoparden des 69.Filmfestivals Locarno erhalten. pardolive.ch

Es waren vor allem Produktionen aus Osteuropa, welche die Jury des diesjährigen Filmfestivals Locarno sowie viele Kritiker überzeugten. Der Goldene Leopard im Internationalen Wettbewerb ging an den Film „Godless“, das Erstlingswerk der bulgarischen Regisseurin Ralitza Petrova. Die beiden Schweizer Wettbewerbsfilme gingen leer aus.

Der Gewinnerfilm spielt in einer bulgarischen Provinzstadt im armen Norden des Landes, wo die Zeit still zu stehen scheint. Thematisiert wird in “Godless” der absolute Verlust von Werten. 

  • Internationaler Wettbewerb, Pardo d’Oro: “Godless”, von Ralitza Petrova
  • Piazza Grande, Prix du Public: “I, Daniel Blake”, von Ken Loach
  • Cineasti del presente: “El auge del humano”, von Eduardo Williams
  • Pardi di domani, Nationaler Preis: “Die Brücke über den Fluss“, von Jadwiga Kowalska 

Gana, eine Krankenschwester mit einer schwierigen Kindheit, kümmert sich um demenzkranke Patienten und handelt zugleich auf kriminelle Weise mit deren Identitätsausweisen. In diesem Sozialdrama scheint alles dunkel zu sein, der Verlust von Werten, gepaart mit Enttäuschung. Das zieht sich durch die Generationen.”Godless” gehört zur Schule des Neorealismus. Die Hauptdarstellerin Irena Ivanova erhielt auch den Preis als beste Schauspielerin.

Der Spezialpreis der Jury ging hingegen an “Scarred” des Rumänen Radu Jude, während “Mister Universo” von Tizza Covi eine besondere Erwähnung und den Kritikerpreis erhielt.

Wenig Lob für Schweizer Wettbewerbsfilme

Im Rennen um den Goldenen Leoparden befanden sich auch zwei Schweizer Filme; besser gesagt eineinhalb Filme: “Marija”, der erste Langspielfilm des 34-jährigen Michael Koch aus Luzern, sowie “La idea de un lago” von der schweizerisch-argentinischen Regisseurin Milagros Mumenthaler. Die Kritiken der nationalen und internationalen Presse fielen kontrovers aus.

Mehr

Mehr

Regisseurin Milagros Mumenthaler auf Identitätssuche

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Mit fünf Jahren belegte sie Malkurse. Mit zehn Jahren ging sie gemeinsam mit der älteren Schwester ins Kino. Die Eintrittskarten von damals fand sie im Übrigen kürzlich in einer dieser Schachteln, in denen Erwachsene gerne die wichtigsten Dinge des Lebens aufbewahren. Sie wunderte sich selbst, wie viele Filme sie schon als Kind gesehen hatte.  …

Mehr Regisseurin Milagros Mumenthaler auf Identitätssuche

Im Film “Marija” geht es um eine junge Immigrantin aus der Ukraine, die in Dortmund lebt. Für die Zeitschrift Variety fusst der Film “auf einer grossen dokumentarischen Arbeit, die kaum Konzessionen ans Publikum macht”, wie Emilio Mayorga schreibt. Tatsächlich hat Regisseur Koch mehrere Monate in dem Quartier gelebt, in dem seine Geschichte dann spielt.

Diese Recherchearbeit spiegelt sich sehr deutlich in dem Film. “Was Michael Koch hier gelungen ist, liegt ziemlich genau in der Mitte des programmatischen Sozialkampfkinos von Ken Loach und dem der kunstvollen Menschenauslotung der Dardenne-Brüder”, sagt Michael Sennhauser, Filmkritiker des Schweizer Fernsehens SRF. Positive Kommentare sind auch in der französischen Tageszeitung Libération zu lesen. Dort spricht Illes Fumey von einem Film, der “wie ein Schlag in den Magen ist.”

Kritischer äusseren sich die Westschweizer Medien. “Der Film führt nicht über eine soziale Analyse im TV-Format hinaus”, meint beispielsweise Vincent Adatte im L’Express und L’Impartial. Antoine Duplan sprich in Le Temps hingegen vom tadellosen Aufbau eines Films, “der aber allzu sehr den vielen Werken ähnelt, welche sich der irregulären Immigration widmeten.”

In Bezug auf den Beitrag von Milagros Mumenthaler, die nach dem Goldenen Leoparden von 2011 ihren zweiten Langspielfilm präsentiert, ist eine gewisse Enttäuschung spürbar. Die Regisseurin thematisiert den inneren Weg einer Frau, deren Vater in der Militärdiktatur verschwunden ist. “Es ist freilich nicht Mumenthalers Aufgabe, dieses dunkle Kapitel auszuleuchten, doch die Frage ist, ob man es in dieser Weise instrumentalisieren sollte, um von der eigenen Befindlichkeit und überflüssigen Nebenhandlungen zu erzählen”, schreibt Susanne Ostwald in der NZZ. Ähnlich negativ tönt es bei Cristina Piccino in der italienischen Zeitung Manifesto. Demnach hat Mumenthaler “die Geister der Geschichte auf ein Polster reduziert.”

In Argentinien, seit 20 Jahren Heimat der Regisseurin, kam der Film hingegen wesentlich besser an. Diego Batle lobt im Blog Otros Cine “eine bisher nicht gesehene Schönheit und  Sparsamkeit, welche den Emotionen keine Grenzen setzt.” Mumentaler gelingt es gemäss diesem Filmkritiker “eine tiefe, attraktive und nachhaltige Erfahrung zu generieren”. Seiner Meinung nach hat die Regisseurin “ein weiteres Wunder” geschaffen.

Anerkennung für Schweizer Filme ausserhalb des Wettbewerbs

Ganz generell bot das Filmfestival Locarno dieses Jahr aber ein gutes Fenster für das Schweizer Filmschaffen, sowohl in den Hauptsektionen des Festivals als auch in den Parallelveranstaltungen.

Der Dokumentarfilm “Cahier africain” über die Zentralafrikanische Republik von Heidi Specogna erhielt den zweiten Preis in der Kritikerwoche sowie Ovationen von Seiten des Publikums nach der Premiere.

Ausserhalb der offiziellen Sektionen sorgten zudem zwei weitere Schweizer Filme für grosses Interesse bei Publikum und Kritikern. Es handelt sich zum einen um “Jean Ziegler, l’optimisme de la volonté”, ein filmisches Porträt von Nicolas Wadimoff über den bekannten Schweizer Politiker und Menschenrechtler. Es wird unter anderem gezeigt, wie Jean Ziegler bei einem Besuch von Kuba die Revolution preist und an seine Freundschaft mit Che erinnert.  Beim zweiten Film handelt es sich um “Un juif pour l’exemple” von  Jacob Berger, in der mit grosser Sensibilität ein düsteres Kapitel der Schweizer Geschichte im Umgang mit Juden erzählt wird.

Beim Filmfestival Locarno hat auch die junge Generation etwas zu sagen. Jedes Jahr werden 33 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren aus der Schweiz und Italien ausgewählt, um eine eigene Jury zu bilden. „Dabei spielt es keine Rolle, ob sie in Sachen Filme schon Erfahrung gesammelt haben“, sagt Koordinator Filippo De Marchi. Es reiche aus, dass sie neugierig seien.

Nach jedem Film treffen sich die jungen Leute für intensive Diskussionen. Und immer wieder geht es dabei ziemlich zur Sache. “Sie haben wohl einen wesentlich emotionaleren Zugang zu Filmen. Es ist wichtig, dass sie Sätze sagen können wie ‘Ich habe nichts verstanden’, oder ‘Der Film hat mir einfach nicht gefallen’. Denn das kann der Beginn für eine vertiefende Auseinandersetzung mit einem Thema sein. Wir versuchen einfach zu erreichen, dass sie aus den konventionellen Schemata von ‘richtig’ und ‘falsch’ ausbrechen“, mein Filippo De Marchi.

Für den Koordinator der Sektion “Cinema e gioventù” geht es aber nicht nur um das Erlebnis, einen Film zu schauen, sondern um eine Lebenserfahrung. In Locarno haben sie die Möglichkeit, vollständig in die Welt des Films einzutauchen. Die jungen Leute  können mit Personen in Kontakt treten, die Filmgeschichte geschrieben haben. Wohl nicht zufällig haben Persönlichkeiten wie der Kameramann Renato Berta oder Frédéric Maire,  Direktor der Cinemateque Suisse, hier ihre Karriere begonnen.

Diese Jahr hat die Jugendjury den Film “Bankok Nites” des Japaners Katsuya Tomita ausgezeichnet.

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft