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Perret schliesst seine Festival-Ära mit Lou Reed

Lou Reed im Gespräch mit seiner 100-jährigen Cousine Shirley. youtube.com

Für den Festivaldirektor Jean Perret ist die 16. Ausgabe des Dokfilm-Festivals Visions du Réel in Nyon auch die letzte. swissinfo.ch sprach mit ihm über den Stargast Lou Reed, "tröstliches Kino" und den bevorstehenden Abschied von Nyon.

swissinfo.ch: Die amerikanische Rock-Legende Lou Reed kommt mit seinem ersten Film zur Welturaufführung nach Nyon. Das ist ein schönes Abschiedsgeschenk für Sie.

Jean Perret: Es geht in erster Linie um den Film. Wir haben ihn nicht einfach blindlings ausgewählt, nur weil der Regisseur Lou Reed heisst.

Der Film ist kurz, er dauert 23 Minuten, und er ist ein wahrer Genuss. Es geht um eine Art Dialog zwischen Lou Reed und seiner 100-jährigen Cousine Shirley, ein Dialog von unglaublicher Authentizität und einem Hauch Naivität.

Die polnische Jüdin mit dem Spitznamen “Red Shirley” erzählt die Geschichte ihrer Emigration von Europa nach Amerika und spricht über ihr Engagement in der Emanzipations-Bewegung sowie im Gewerkschafts- und Arbeitskampf in den USA.

Lou Reed schafft im Gespräch eine Art Komplizenschaft. Wenn er das Gefühl hat, dass Shirley sich in etwas täuscht, unterbricht er sie kurzerhand. Es ist eine Art Konversation über alles und nichts, aber das Ganze ist ziemlich konzis aufgebaut.

swissinfoch.ch: In der Einleitung zum Programm der 16. Ausgabe des Dokfilm-Festivals Visions du Réel bezeichnen Sie die ausgewählten Filme als Kino, das tröstlich ist. Wie ist das zu verstehen?

J.P.: Es ist tröstlich aus zwei Gründen: Diese Art Kino gibt uns das Vertrauen in die Bilder wieder. Sie ermöglicht uns in der heutigen Zeit der aggressiven und widersprüchlichen Bilderflut, wieder an das zu glauben, was wir sehen.

Es ist auch tröstlich, die Ruhe zu empfinden, die einmal mehr von den Filmen ausgeht, die für diese Ausgabe von Visions du Réel ausgewählt worden sind. Es geht um eine Erfahrung, welche die “Cinéastes du Réel” mit ihren Zuschauern teilen.

Der wiedererlangte Glaube an die Bilder regt die Neugier und den Geist an und spricht die Gefühle an – was dafür sorgt, dass wir uns gut fühlen. Dieses Kino – auch wenn es mitunter das Übel der Welt zeigt – gibt dem Zuschauer einen Platz.

Es gibt den Regisseur, der schaut, diejenigen, die betrachtet werden, und es gibt den Zuschauer. Zwischen diesen Dreien muss eine Verbindung hergestellt werden. Der Rest ist eine Frage der Distanz.

Darum geht es im Kino: Wie nähert man sich? Wie behält man eine gute Distanz? Die Medien haben Tendenz, die nötige Distanz ausser Acht zu lassen. Sie kleben am Ereignis. Und je mehr sie daran kleben, desto weniger sehen sie.

swissinfo.ch: Mit der 16. Ausgabe von Visions du Réel geht Ihre Ära als Festival-Direktor zu Ende. Wie ist Ihnen zu Mute?

J.P.: Wie sagt man doch so schön: “Ein Auge weint, das andere lacht.” Ich habe meinen Entscheid gut überlegt. Ich leite Visions du Réel seit nunmehr 16 Jahren und habe viel Energie in das Festival gesteckt. Ich bin immer noch voll motiviert, doch ich denke, es ist besser zu gehen, wenn alles gut läuft. Und das Festival läuft sehr gut.

Ich freue mich, die Leitung der Abteilung Film an der Hochschule für Kunst und Design in Genf zu übernehmen, wo eine grosse Reorganisation und Neuausrichtung ansteht.

Doch am Tag, an dem ich Nyon definitiv verlassen werde, wird mich sicher eine grosse Traurigkeit überkommen. Denn ich liebe es, mit dem Publikum Filme anzuschauen, von denen ich überzeugt bin, dass sie schön, stark, interessant, geistreich und inspierend sind.

Pierre-François Besson, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Die 16. Ausgabe des Dok-Filmfestivals “Visions du Réel” in Nyon findet vom 15. bis 21. April statt.

Insgesamt 160 Filme bewerben sich um 11 Preise im Gesamtwert von 85’500 Franken.

Die Rock-Legende Lou Reed kommt mit seinem ersten Film “Red Shirley” zur Welturaufführung nach Nyon.

Den Auftakt zum Festival macht am 14. April “Aisheen” des Genfers Nicolas Wadimoff, der an der Berlinale den Preis der ökumenischen Jury erhalten hatte.

Neben 7 verschiedenen Sektionen gibt es diverse Sonderprogramme, 2Werkschauen und 2 so genannte “Tendances”.

Visions du Réel ist das wichtigste Filmfestival der Westschweiz und – hinter Locarno und Solothurn – das drittgrösste der Schweiz.

Nach der Gründung 1969 wurde das Festival 1995 in der heutigen Form neu aus der Taufe gehoben.

Heute bietet es ein an die Realität gebundenes Kino, welches über das strikt Dokumentarische hinausgeht.

Für Filmschaffende und Verleiher aus der Schweiz und Europa gilt Visions du Réel als Event, den man nicht verpassen sollte.

Jean Perret leitet das Filmfestival Visions du Réel seit 1995.

Der 57-jährige Perret verlässt das Filmfestival im August.

Er wird Verantwortlicher der Abteilung Film an der Hochschule für Kunst
und Design (HEAD) in Genf.

Perret ist Autor eines Werks über den Dokumentarfilm der 1930er-Jahre in der Schweiz.

Zuvor war er Lehrer und arbeitete während vielen Jahren als Journalist.

Zwischen 1990 und 1994 war er Generaldelegierter der “Semaine de la Critique” am Filmfestival Locarno.

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