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“Die Schweiz ist ein tief gespaltenes Land”

Zu viele Ausländer? Ja, sagte am 9. Februar eine hauchdünne Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger. Keystone

Das Zufallsmehr zugunsten von Einwanderer-Kontingenten am 9. Februar zeige die tiefe Spaltung der Schweiz in der Frage der nationalen Identität, sagt Silja Häusermann. Die Politikwissenschaftlerin sieht das als Gefahr für das Schweizer Konsenssystem.

Die SVP vermöge das Votum über die Zuwanderung zu einem Akt des identitären Ausdrucks zu machen, sagt die 37-jährige Professorin für Schweizer Politik und Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Zürich.

Die am 3. April publizierte VOX-Analyse des Instituts gfs.bern und der Universität Genf attestierte der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei, dass sie besonders viele Unentschlossene und Unzufriedene zur Stimmabgabe habe bewegen können. Deren grosser Anteil an Ja-Stimmen sei möglicherweise entscheidend gewesen.

swissinfo.ch: Was hat Sie an den Analyse-Ergebnissen am meisten überrascht? 

Silja Häusermann: Paradox ist gerade, wie wenig überraschend die Ergebnisse sind. Nach der Abstimmung war viel spekuliert worden, dass die Konflikt-Konstellation diesmal eine andere gewesen sei als bei den vorherigen SVP-Initiativen, etwa zum Minarett-Verbot oder den Ausschaffungen, und dass es Ja-Stimmen sogar aus dem linken Lager gegeben habe. Jetzt wissen wir: Das stimmt nicht. Die Konflikt-Konstellation ist dieselbe, nämlich zwischen einer offenen Schweiz und einer, die sich zur Verschliessung neigt. 

Silja Häusermann

swissinfo.ch: Das Ja ist fast ein Zufallsergebnis, die Lager für eine rückwärtsgewandte Abschottung gegen eine moderne Öffnung gleich gross. Droht ein Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts der Schweiz? Besteht die Gefahr eines inneren Zerreissens? 

S.H.: Diese Gefahr besteht. Sie entsprach lange nicht der Selbstwahrnehmung der Schweiz als konsens-orientiertes, moderates und gemässigtes Land. Was sich schon seit gut 10 Jahren zeigt, tritt mit der jüngsten Abstimmung wieder einmal sehr deutlich zu Tage: Die Schweiz ist ein tief gespaltenes Land. Es stehen sich zwei grundlegend verschiedene Auffassungen gegenüber, was dieses Land ist und sein soll. Geht es der Schweiz gut, weil sie offen ist, oder weil sie abgeschottet ist? Die Polarisierung mit der Spaltung in zwei grosse Lager ist stärker als in anderen Ländern Europas, in denen es ja auch Zuwanderung gibt.

Für die Schweiz ist das ein besonders gravierendes Problem, weil ihr ganzes politisches System auf Ausgleich und Konsens angelegt ist. Aber Konsenslösungen zu finden, wird zunehmend schwieriger: Der Bundesrat kann sich nicht einigen, das Parlament nicht, die Sozialpartner können sich nicht einigen.

Sind alle diese Akteure unfähig, eine Einigung zu finden, kommt die direkte Demokratie mit Initiativen und Referenden zum Zug. Es ist das Paradox, dass ein intensiver Gebrauch der direkten Demokratie ein schlechtes Funktionieren des Systems anzeigt. In der direkten Demokratie werden politische Fragen nur noch im Schema schwarz/weiss entschieden, denn sie lässt nichts anderes zu. Und wie im Falle des 9. Februar gibt es zufällige Entscheide. Das ergibt für die Politik eine grosse Unsicherheit, die sich insbesondere für die Wirtschaft negativ auswirkt. 

Am 9. Februar entschied eine hauchdünne Mehrheit von 50,3% zugunsten der Annahme der Volksinitiative zur Begrenzung der Einwanderung.

Wie die VOX-Analyse des Instituts gfs.bern und der Universität Genf zeigte, konnte die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) als Initiantin besonders viele Unentschiedene, Unzufriedene und politisch Desinteressierte zum Gang an die Urnen bewegen.

Hoch war auch der Anteil der Mobilisierten aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten.

Deren insgesamt hoher Anteil an Ja-Stimmen gab möglicherweise den Ausschlag für die Annahme, so die Autoren.

34% der Ja-Stimmenden gaben “zu viele Ausländer” als Hauptgrund für ihr Votum an. 17% wollten die Rückkehr zu einer souveränen Einwanderungspolitik.

Frappant war mit von 83% die hohe Stimmabstinenz der Unter-30-Jährigen. Mit 42% Ja war bei ihnen aber die Zustimmung am geringsten.

Die höchste Stimmbeteiligung nach Altersgruppen wiesen mit 82% die 60- bis 69-Jährigen auf.

Den höchsten Ja-Anteil steuerten die 50- bis 59-Jährigen bei (62%).

Für die Analyse wurden in den zwei Wochen nach der Abstimmung 1511 Personen aus den drei grossen Sprachregionen befragt.

swissinfo.ch: Die SVP konnte viele Unentschiedene, Protestwähler und Bürger mit tieferen Einkommen und Bildungsstand mobilisieren, deren Ja-Stimmen möglicherweise entscheidend waren. Was können die anderen Parteien, Verbände, Organisationen bis zum Bundesrat von der SVP immer noch lernen?

S.H.: Die SVP ist immer noch mit Abstand jener Akteur, der die Menschen am besten mobilisieren kann, an die Urnen zu gehen. Sie tut das, indem sie Themen sehr stark identitäts- und wertebezogen aufbaut. Das Votum wird so zu einem Akt des identitären Ausdrucks. Man gibt zu erkennen, welche Schweiz man haben will. Das ist eine viel stärkere Motivation, an einer Abstimmung teilzunehmen, als ein kühler Sachentscheid.

Dem siegreichen national-konservativen Pol steht aber ein fast gleich grosser gegnerischer Pol gegenüber. Dieser schafft es zur Zeit nicht, dem Gegenbild einer erfolgreichen, selbstbewussten, gegenüber der Öffnung furchtlosen Schweiz eine Stimme, ein identitär aufgeladenes Wertebild zu verleihen. Dieses Lager ist nicht durch etwas Positives geeint, sondern höchstens durch die Ablehnung der SVP.

swissinfo.ch: Was wäre ein mögliches Wertebild für eine offene Schweiz?

S.H.: Es ist nicht gelungen, die Erfolgsgeschichte der Schweiz zu kommunizieren. Ihr wirtschaftlicher Wohlstand und der soziale Friede sind grösstenteils gerade ihrer wirtschaftlichen Offenheit geschuldet. Die Schweiz war immer schon ein wirtschaftlich sehr offenes Land.

Aber es braucht Bilder und Erzählungen, um ein erfolgreiches Schweizbild der Offenheit zu übertragen. Auf der Gegenseite zur SVP sehe ich aber weder solche so genannten Narrative noch Köpfe, die diese personifizieren könnten. 

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swissinfo.ch: Ausgerechnet die Jungen, die am längsten von den getroffenen Entscheiden betroffen sind, Stichwort Ausschluss vom EU-Austauschprogramm Erasmus+, blieben den Urnen grösstenteils fern. Müssen die Parteien neue Kampagnen, neue Stile auf neuen Medien fahren, um die Jungen zu erreichen?

S.H.: Die extrem tiefe Stimmbeteiligung von 17% bei den Unter-30-Jährigen ist ein gravierendes Problem der Demokratie an sich, völlig unabhängig vom Ausgang der Abstimmungen. Es ist nicht nur ein Armutszeugnis für die Demokratie, sondern auch eines für diese Generation. Bei 83% Enthaltung kann man nicht einfach sagen, es wurde zu wenig mobilisiert.

Aber es stimmt: da liegt ein sehr grosses Potenzial brach, das besser mobilisiert werden könnte. Es bedarf dafür wohl anderer Kanäle, aber auch anderer Botschaften. Nach der Abstimmung erhielten wir viele Anfragen von Jugendsendern, wie z.B. dem Fernsehsender Joiz, die Erklärungen wollten für das “schockierende“ Ja. Wichtig ist aber vor allem, dass solche Kanäle vor Abstimmungen über die Vorlagen berichten und ihre Bedeutung für die Jugend greifbar machen. 

swissinfo.ch: Die Stimmbürger haben ihren Entscheid getroffen im Bewusstsein des Risikos, dass Brüssel die Bilateralen Abkommen kappen und die Schweiz isoliert dastehen kann. Ist der Bilaterale Weg nicht von Brüssel aus bedroht, sondern von der Schweiz aus beendet?

S.H.: Brüssel hat den bilateralen Weg nicht in Frage gestellt, sondern die Schweiz. Die EU ist der Schweiz nach dem EWR-Nein 1992 mit einer massgeschneiderten Lösung sehr weit entgegen gekommen. Wenn den Ja-Stimmenden bewusst war, dass sie mit ihrer Stimme die Bilateralen gefährden, heisst das, dass in der Bevölkerung nicht wirklich verstanden wird, wie viel die Bilateralen der Schweiz bringen. “Was bringt mir das Wachstum?”, hörte ich Leute fragen. Dass die tiefe Arbeitslosigkeit oder die schwarzen Zahlen der Sozialwerke direkt mit dem Wachstum zu tun haben, konnte offenbar nicht plastisch genug kommuniziert werden.

swissinfo.ch: Klar dominierendes Motiv der Ja-Stimmenden war “zu viele Ausländer”, gefolgt von der nationalen Souveränität bei der Zuwanderung. Wie fremdenfeindlich ist die Schweiz? 

S.H.: Die Schweiz hat im internationalen Vergleich einen relativ hohen Anteil an Ablehnung der Einwanderung. Sie weist aber vor allem eine sehr hohe Polarisierung in dieser Frage auf. Als Reizthema teilt Zuwanderung die Meinungen in der Schweiz weit stärker als im Ausland, auch sind die Lager grösser. Die SVP kommt auf rund 30% Wähleranteil, der Front National in Frankreich kam nie über 15-20% hinaus.

Dass die Einstellung gegenüber Ausländern das wichtigste Motiv in der Abstimmung war, darauf deutete bereits hin, dass die Abstimmungs-Ergebnisse zur Masseneinwanderungsinitiative auf Ebene der Gemeinden fast perfekt mit jenen zum Minarett-Verbot korrelieren. Und bei den Minaretten ging es eindeutig um die kulturelle Bewahrung dessen, was als Schweizer Eigenheiten gegenüber dem Fremden dargestellt wurden.

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