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“Eine gute Karikatur muss aufrütteln und berühren”

"Dem Sieger gehört die Beute": Eine Karikatur aus dem Jahr 1877 zur Korruption in der amerikanischen Regierung während des Bürgerkriegs. AKG Images

Für Karikaturen gibt es keine Tabus, auch heikle Themen sind zulässig. Dies sagt Anette Gehrig, Leiterin des Cartoonmuseums Basel. Allerdings hat es die Karikatur schwer in der heutigen Medienwelt: Sie fällt dem Spardruck zum Opfer und wird vom Farbfoto verdrängt.

Das Cartoonmuseum Basel ist das einzige Museum der Schweiz, das sich der satirischen Kunst widmet. Seine Leiterin Anette Gehrig setzt sich täglich mit diesem Medium auseinander, das bei den einen Lacher erzeugen und bei anderen Wut auslösen kann.

swissinfo.ch: Wann macht eine Karikatur zu einem politischen oder gesellschaftlichen Thema Sinn?

Anette Gehrig: Ich würde kein Thema ausgrenzen, keines ist karikaturunwürdig. Damit der Karikaturist eine Verzerrung hinkriegt, muss er das Thema kennen, sich mit der Materie auseinandersetzen, sie analysieren. Zudem muss er den gesellschaftlichen Kontext miteinbeziehen.

swissinfo.ch: Können Zeichnungen, Karikaturen allenfalls mehr ausdrücken als Worte?

A.G.: Da kommt einem unweigerlich der klischierte Satz in den Sinn: “Ein Bild kann mehr aussagen als tausend Worte”. Eine Karikatur kann ein Anliegen mit nur einem Bild ganz knapp auf den Punkt bringen, wobei der Humor, der zur Karikatur gehört, sehr unterschiedliche Schattierungen haben kann. Ein Text oder eine Comic-Reportage kann Dinge möglicherweise besser von verschiedenen Seiten anschauen.

1979 wurde die Stiftung Sammlung Karikaturen & Cartoons ins Leben gerufen. Das Museum existiert seit 30 Jahren und wird seit 2008 von Anette Gehrig geleitet.

Das Cartoonmuseum Basel widmet sich als einziges Museum der Schweiz ausschliesslich der satirischen Kunst – von der Karikatur über die humoristische Zeichnung bis hin zum Comic.

Die Sammlung umfasst rund 3400 Originalwerke und 2000 Leihgaben. Diese bilden zusammen eine repräsentative Auswahl von Cartoons und Karikaturen in unterschiedlicher Technik von etwa 700 Künstlerinnen und Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts aus 40 Ländern

Die Sammlung enthält Cartoons mit und ohne Text, Parodien und Pastiches über Kunstwerke und Künstler, Karikaturen, Darstellungen zu Themen aus Gesellschaftspolitik, Kultur und Alltag.

swissinfo.ch: Wie hat sich ihre Rolle in den letzten Jahrzehnten geändert, entwickelt?

A.G.: Seit den 1960er-Jahren hat die Zahl der Karikaturen massiv abgenommen. Das liegt sicherlich auch daran, dass das Farbbild in die Medien kam, und es sehr viel einfacher wurde, Fotos und Grafiken zu produzieren. Die Fotografie hat in den letzten Jahren einen sehr grossen Platz eingenommen und die Karikaturen und Illustrationen verdrängt.

Die wenigsten Zeitungen scheinen zu wissen, dass eine Karikatur als eigenständiger Kommentar bestehen kann – ohne dass es dazu einen Text braucht.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert spielten Karikatur und Zeichnung etwa in Amerika eine sehr grosse Rolle. Das war die Blütezeit der Karikaturen und auch der grossen Zeitungen. Damals war es gang und gäbe, dass Zeitungen einen Zeichner, einen Illustrator angestellt hatten, der sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzte und so mit dem Publikum einen Dialog führte.

Davon sind wir heute weit entfernt. In der Schweiz gibt es nur noch wenige Zeitungen, die sich einen Comic-Strip leisten. Das Tempo hat zugenommen, der Spardruck auch, die Zeitungen fusionieren und kaufen Comic-Strips ein, so dass die Zeichner keinen Platz mehr haben, was ich sehr schade finde.

swissinfo.ch: Karikatur hat auch mit Satire zu tun. Laut Kurt Tucholsky darf die Satire alles. Sind auch Karikaturen zu sensiblen Themen wie Holocaust, Religion, Behinderte zulässig?

A.G.: Ja, wenn es wirklich Satire ist. In unserer Gesellschaft kennen wir die freie Meinungsäusserung. Eine Karikatur ist eine Kritik an einem gesellschaftlichen Zustand. Sie kann auch aus einer Richtung oder in einer Form kommen, die einem unsympathisch ist. Das müssen wir aushalten.

Wenn es eine ernsthafte Auseinandersetzung ist mit einem Thema, ist es jedoch eine gute Möglichkeit, Kernpunkte und Fragestellungen auf den Tisch zu bringen – auch oder gerade wenn es wehtut.

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100 Karikaturen von Chappatte

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Selbst in seinen schärfsten Karikaturen beweist Chappatte Sensibilität: Ohne seine Objekte je bösartig ins Lächerliche zu ziehen, arbeitet er die Eigenheiten seiner Figuren pointiert aus. Sein Augenmerk richtet sich auf Situationen, Konflikte oder Widersprüche, jedoch nie direkt auf die Person. Der Westschweizer Karikaturist arbeitet für die “Herald Tribune”, “Le Temps” und die “NZZ am Sonntag”.…

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swissinfo.ch: Mit dieser freien Meinungsäusserung sind aber nicht alle einverstanden, denken wir nur an den Karikaturenstreit rund um die Mohammed-Karikaturen, der vor ein paar Jahren zu gewaltsamen Protesten führte und heute noch für Aufruhr sorgt.

A.G.: Gerade wenn es um Religion geht, wo die Emotionen der Menschen betroffen sind, muss man sich, zumindest als Museum, bewusst sein, dass gewisse Sensibilitäten da sind. Wenn wir zum Beispiel eine Ausstellung zu arabischen Karikaturen machen, müssen wir erklären, einbetten und die gesellschaftlichen Hintergründe liefern.

Charlie Hebdo, das jüngst Karikaturen des Propheten Mohammed publiziert hat, ist ein französisches Satiremagazin, da erwartet man logischerweise Satire, man weiss, was drin ist und kann es lesen oder lassen. Wenn aber das Klima aufgeheizt ist, muss man sich fragen, ob man eine Karikatur zu einem bestimmten Thema überhaupt bringen soll.

swissinfo.ch: Die Karikatur ist also kein universelles Ausdrucksmittel, das von allen Kulturen und Regionen gleich verstanden wird?

A.G.: Die Bildkritik und das Übertreiben – also die Karikatur, wie wir sie hier definieren – ist zum Beispiel in China nicht bekannt. Dort funktioniert die Karikatur sehr viel symbolischer, viel verschlüsselter. Kritik ist natürlich auch drin. Und das ist genau der Haken universeller Botschaften: Man muss sie lesen können und den Kontext, den Code kennen.

Patrick Chappatte (Le Temps, NZZ am Sonntag, Herald Tribune), Orlando Eisenmann (Der Bund), Felix Schaad (Tages-Anzeiger), Max Spring (Berner Zeitung), Mix&Remix (Hebdo), Raymond Burki (24 heures), Thierry Barrigue (Vigousse).

swissinfo.ch: Die Pressefreiheit hochhalten und gleichzeitig die Befindlichkeiten der Menschen respektieren: eine Gratwanderung oder gar ein Ding der Unmöglichkeit?

A.G.: Die Karikatur arbeitet ja mit der Übertreibung, dem Verzerren. Sie ergreift Partei, kann aggressiv sein. Es kommt auf den eigenen Standpunkt an, ob eine Karikatur Lachen erzeugt oder Wut auslöst. Das ist der Grund, weshalb die Karikatur oft als Waffe bezeichnet wird.

Laut Tucholsky sind Karikaturisten gekränkte Idealisten, die von einem bestimmten Idealzustand ausgehen. Sie bringen in die Karikatur auch Befindlichkeiten hinein, und um etwas aufzuzeigen, wird es übertrieben. Wenn es einen nicht berührt und aufrüttelt, dann ist es vielleicht auch keine gute Karikatur. Vielleicht ist eine Karikatur immer auch respektlos.

Die Karikatur ist ein eigenständiger Bildkommentar, eine Zeichnung, die sich mit einem aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Thema auseinandersetzt und mit Zuspitzung und/oder Übertreibung arbeitet.

Das Cartoon ist ein Bild-Witz und macht sich lustig über Situationen und Besonderheiten, jedoch weniger über konkrete aktuelle Ereignisse.

Der Comic-Strip fasst mehrere Einzelbilder in einem Panel zusammen.

Das Comic ist eine Erzählung, eine Geschichte in mehreren Bildern.

Die Graphic Novel ist ein Bildroman, ein längerer, oft komplexer Comic.

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