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Spieler ohne Grenzen

Marina Lutz

Wir. Und die anderen. So einfach ist letztlich das Konzept der Nation. Denn es beruht ganz wesentlich auf der Abgrenzung. Der Abgrenzung von dem wie auch immer gearteten Anderen. Die Grenze, die eine Nation – selbst, oder vielleicht auch gerade die viel zitierte Willensnation – überhaupt erst konstituiert. Sie trennt primär.

Soweit die Theorie.

Doch Abgrenzung ging auch schon einfacher. Wie die Europameisterschaft in Frankreich so wunderbar zeigt. Spätestens dann, wenn es auf dem Fussballfeld zum Bruderduell kommt, wird es schwierig. Xhaka gegen Xhaka. So lautete die Affiche beim Spiel Schweiz-Albanien, dem erstem Auftritt der Schweizer Nationalmannschaft an der Euro2016. Granit hier auf der einen Seite, Taulant dort auf der anderen Seite der Mittelline. Und wo bitte, wo verläuft jetzt hier die Grenze? Die Grenzen zwischen uns und den anderen?

Überhaupt, die Partie Schweiz gegen Albanien. Bei Lichte betrachtet doch ein schmieriger Etikettenschwindel, den der Europäische Fussballverband UEFA uns da wieder vorgesetzt hat. Denn eigentlich hat an diesem Tag doch Schweiz A gegen Schweiz B gespielt. Oder Albanien 1 gegen Albanien 2. Je nach Perspektive.  

Die Partie wird für immer als das Spiel erinnert werden, in dem anlässlich eines Länderspiels doch tatsächlich Brüder gegeneinander angetreten sind. Und mit Brüdern sind ausdrücklich nicht nur Taulant und Granit gemeint.

Das Spiel Schweiz gegen Albanien hat so ihrem biederen sportlichen Niveau zum Trotz vor allem eins gezeigt: Die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft ist längst transnational.

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Schweizer Nationalmannschaft: 12 Nationen, ein Team

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Nachdem sie die Euro 2012 verpasst hatten (an der Qualifikation gescheitert), sind die Spieler in rot und weiss zurück auf der europäischen Bühne mit Talenten, die in Ländern wie Kamerun, Elfenbeinküste und Kosovo geboren wurden. Wenn man die Trainer mitberechnet, haben sowohl die Schweiz als auch Frankreich 15 Mannschaftsmitglieder mit einem Migrationshintergrund – die Schweiz…

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Und damit ist die Schweiz weiss Gott nicht allein. Österreichs Leistungsträger heissen David Alaba, Marko Arnautovic und Zlatko Junuzovic. Schweden hätte sich ohne die Tore von Zlatan Ibrahimovic erst gar nicht für die EM qualifiziert. Deutschland hofft auf die Magie der Pässe von Mesut Özil und Sami Khedira sowie auf die gute Nachbarschaft von Jerome Boateng.

Die Leistungsträger des ewigen Geheimfavoriten Belgien heissen Romelu Lukaku, Marouane Fellaini und Radja Nainggolan. Der beste Spieler der Kroaten ist mit Ivan Rakitic eigentlich ein Schweizer. Und auch bei den Italienern, dieser so stolzen Fussballnation, trägt die magische Nummer 10, die Nummer von Alessandro del Piero, Roberto Baggio oder Francesco Totti, mit Thiago Motta ein – leider gänzlich talentfreier – gebürtiger Brasilianer. Die Homogenität ist längst der Heterogenität der Herkünfte gewichen.                                     

Gerade die Nationalmannschaft, erdacht zur Selbstvergewisserung des Nationalen, wird damit zum Exempel, wie brüchig das Konzept der Nation längst geworden ist. Die Europameisterschaft, der Wettkampf verschiedener europäischer Nationen um einen Fussball-Pokal, erscheint so zu Zeiten der aufgehobenen Grenzübergänge als abstrakter Anachronismus.

Wir und die anderen. Die Abgrenzung ist heute, da sich Brüder in Länderspielen gegenüberstehen, schwieriger denn je. Paradoxerweise scheinen gerade deshalb Grenzen wieder an Bedeutung zu gewinnen. Das Nationale kehrt in Form von Rechtspopulisten zurück nach Europa. In England. In Österreich. In Deutschland. In der Schweiz.

Je schwieriger die Abgrenzung, je undeutlicher die Differenz zwischen ihnen und uns, desto wichtiger wird sie. Selbst wenn die Grenze mitten durch Familien verläuft und Brüder trennt.

Die Europameisterschaft mag so einem Anachronismus gleichkommen. Politisch betrachtet aber durchaus ein zeitgemässer Anachronismus.


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