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Ja nicht am heissen Eisen die Finger verbrennen

Zusehends undiplomatischer im Ton: Die EU setzt die Schweiz auch innenpolitisch unter Druck. Keystone

Neue bilaterale Abkommen mit der Schweiz sind nur noch unter strengeren Bedingungen zu haben, sagt die EU. Der Bundesrat probt den Spagat zwischen Entgegenkommen und Wahrung der Souveränität und weicht damit einer Grundsatzdebatte im Land vorerst aus.

Mit einer Mini-Lösung will der Bundesrat der EU in den institutionellen Fragen entgegenkommen. Statt einer supranationalen Gerichtsbarkeit zur Überwachung der bilateralen Verträge – wie sie die EU fordert – will er ein rein schweizerisches Gremium schaffen, dem diese Aufgabe zukäme.

Die Forderung der EU nach Anpassungen von Weiterentwicklungen des EU-Rechts will er übernehmen, allerdings ohne Automatismus, was bedeutet, dass die Anpassungen dem demokratischen Prozess in der Schweiz unterstellt wären.

Ernst gemeinter Vorschlag

Offiziell kommentiert die EU den Vorschlag zurzeit nicht, denn der Bundesrat hat ihn noch nicht in Brüssel deponiert. Zurzeit läuft die Konsultation bei den Kantonen, den Verbänden und den aussenpolitischen Kommissionen der beiden Parlamentskammern. Der EU-Botschafter in der Schweiz hat das Modell allerdings umgehend als “nicht genügend” qualifiziert.

Der Vorschlag des Bundesrates sei “sicher ernst gemeint”, sagt der Politologe Laurent Goetschel gegenüber swissinfo.ch: “Man versucht, am nächsten bei der eigenen Position in die Verhandlungen einzusteigen. Aber er wurde sicher auch im Bewusstsein gemacht, dass das nicht spontan auf  grosse Gegenliebe der anderen Verhandlungspartner stossen könnte.”

Vehikel für die SVP-Innenpolitik

1992 hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) als einzige grosse Partei den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) erfolgreich bekämpft und die Volksabstimmung gewonnen. Seither hat sie den Kampf gegen jegliche Annäherungen an die EU oder Kooperationen mit ihr prominent auf ihre Fahnen geschrieben. Mit Erfolg: Die Partei ist dank den Kernthemen Europa und Migration zur wählerstärksten Partei aufgestiegen.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass SVP-Nationalrat Hans Fehr dem Bundesrat auch jetzt vorwirft, er vertrete offenbar nicht mehr die Interessen der Schweiz und mache nur noch Bücklinge. “Er will nachgeben und die EU irgendwie zufrieden stellen. Es muss aber endlich mal klar werden, dass wir ein souveränes Land sind”, sagt Fehr gegenüber swissinfo.ch.

Die Regierung sei in einer “schwierigen Position”, sagt der Generalsekretär der europafreundlichen Neuen Europäischen Bewegung (NEBS), Michael Fust: “Jeder Schritt, den sie macht, wird von der einen oder andern politischen Seite als zu weitreichend oder zu wenig weit gehend taxiert.” Deshalb habe der Bundesrat “lediglich einen Minimalkonsens gefunden”, welcher der EU “kaum genügen” werde.

Unpopuläres Thema

Innenpolitisch ist der Bundesrat in der Zwickmühle, zumal jede wie auch immer ausgestaltete Lösung mit der EU eine Mehrheit im Parlament und allenfalls auch eine Volks-Mehrheit an der Urne voraussetzt. Grundsätzlich ist das Verhältnis zur EU in der öffentlichen Debatte der vergangenen Monate kaum präsent.

“Im Wahljahr 2011 wurde der Ball von vielen Seiten bewusst tief gehalten, weil damals schon klar war, dass die Schweiz einen grossen Schritt wird machen müssen, wenn sie den privilegierten Marktzugang zum Binnenmarkt erweitern will”, sagt Fust.

“Der Schritt scheint nicht wahnsinnig attraktiv zu sein, weil er uns noch stärker in die EU einbindet, und wir gleichwohl nicht mitentscheiden können. Das der Öffentlichkeit zu erklären, scheint eine grosse Herausforderung zu sein. Ich denke schon, dass der eine oder andere Politiker Angst hat, sich an diesem unpopulären Thema die Finger zu verbrennen.”

Dass der Bundesrat die bisherige Europapolitik nicht grundsätzlich hinterfrage, habe auch damit zu tun, dass die “wirklich wichtigen Bereiche und Fragen, welche die Schweiz unmittelbar tangieren, schon zu einem grossen Teil über die bestehenden Verträge geregelt” seien, sagt Goetschel.

Zur Erinnerung: Die Schweiz hat mit der EU rund 100 bilaterale Abkommen abgeschlossen, so ein Abkommen über den freien Personenverkehr, das Schengen-Abkommen, über die Aufhebung der Personenkontrollen an der Landesgrenze und zahlreiche Abkommen in den Bereichen Handel, Verkehr und Forschung.

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Politik der kleinen Schritte

Das heisst, dass die Schweiz eine nachhaltige Lösung des Verhältnisses zur EU noch eine Weile auf die lange Bank zu verschieben versucht. “Wir tun das ja schon seit dem EWR-Nein 1992”, sagt Goetschel.

“Ich würde die Prognose wagen, dass das noch eine Zeitlang der Fall sein wird, es sei denn, es treten plötzlich grössere Probleme auf mit den bestehenden Verträgen, oder in unserem Umfeld entstehen wirtschaftliche Katastrophenszenarios, die auch unser eigenes Denken wieder ankurbeln würden.”

Die bilateralen Beziehungen seien “ein Geben und Nehmen”, sagt Hans Fehr und erinnert an den Bau der Neuen Eisenbahntransversale (Neat) für 30 Milliarden Franken, von dem auch die EU profitiere. Zudem sehe er nicht, “was für ein neues Abkommen die Schweiz derzeit oder mittelfristig braucht. Wir haben keinen Bedarf an neuen Abkommen”.

Die EU will, dass die Schweiz künftig ihren Rechtsbestand mitsamt dessen Weiterentwicklungen übernimmt. Das hat sie vor vier Jahren erstmals klar gemacht und seither bei verschiedenen offiziellen Gesprächen wiederholt. Der Ton ist dabei zusehends undiplomatischer, der Druck grösser geworden.

Zusätzlich zur Übernahme des jeweils aktuellen EU-Rechts in den durch bilaterale Verträge geregelten Bereichen fordert die EU von der Schweiz die Übernahme der EU-Rechts-Sprechung und die Überwachung der bilateralen Verträge durch gemeinsame Kontrollinstanzen und Gerichtsbarkeiten. Neue Verträge will die EU nur noch auf dieser Basis abschliessen.

Die Forderung der EU steht dem in der Bevölkerung tief verankerten Selbstverständnis der Schweiz als souveränes Land diametral entgegen. Fremde Richter – so der breite Konsens – haben in der Schweiz nichts verloren. Gleichzeitig hat die Schweizer Exportwirtschaft ein vitales Interesse an einem möglichst ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat Ende April beschlossen, der EU in institutionellen Fragen allenfalls einen Schritt entgegenzukommen. Der Vorschlag sieht vor, zwar keine supranationalen Überwachungs- und Gerichtsbehörden zuzulassen, sondern ein rein schweizerisches Gremium zu schaffen, das von der Bundesversammlung gewählt würde.

Weiterentwicklungen des EU-Rechts will der Bundesrat übernehmen, allerdings ohne Automatismus, was bedeutet, dass die Anpassungen dem demokratischen Prozess in der Schweiz unterstellt wären. Das wiederum würde die Einhaltung von Fristen bis hin zu allfälligen Referendums-Abstimmungen beinhalten.

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