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“Die Kampfkunst hat uns zusammengeführt”

Wu Yongmei und Fan Qiang. swissinfo.ch/Filipa Cordeiro

Federnd von Dach zu Dach springen, einen Ziegelstein mit der Handkante entzwei schlagen: Das ist Kino. Kung Fu, wie man im Westen sagt – in China heisst es wu-shu – ist aber viel mehr als das, wie ein Besuch in einer Berner Schule für chinesische Kampfkunst zeigt.

Werden Schweizer auf China angesprochen, nennen sie meist Chop Suey und Kung Fu. “Die chinesische Küche und Kung Fu sind die zwei Künste aus China, die in der Schweiz am bekanntesten sind. Bruce Lee, Jackie Chan oder Jet Li sind auch hier Stars”, sagt Wu Yongmei.

Kurze Zeit nach der Fertigstellung dieses Textes ist Fan Qiang in der Schweiz bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

 

Wu Yongmei hat ausdrücklich gewünscht, dass das Porträt von swissinfo.ch dennoch veröffentlicht werden soll. Dies zur Ehre ihres verstorbenen Mannes und seiner Leidenschaft für die Kampfkunst.

 

Wir haben diesen Wunsch respektiert und sprechen der Witwe unser tiefes Beileid aus.

 

Die Redaktion

Die 44-jährige Kampfsportlerin hat dank Kung Fu auch den Mann ihres Lebens gefunden. Vor 15 Jahren gründete Wu Yongmei in Bern ihre eigene Kampfsport-Schule. Später heiratete sie Fan Qiang.

Beide erwarben als Lehrer den siebten Dan, womit sie in der Schweiz die einzigen auf dieser Stufe sind. Das Paar hat in den Kampfkünsten zahlreiche Schweizermeister geformt, was sie besonders stolz macht. Mehr Befriedigung als Medaillen aber gibt ihnen die Gewissheit, ihre Passion zum Beruf gemacht zu haben.

Eltern schicken ihre Kinder in die Kampfsportschule, damit sie stärker werden, aber auch Disziplin und Selbstbeherrschung lernen. Die “Martial Arts”, wie sie auf Neudeutsch heissen, sind ein kompletter Sport, der Kraft, Geschmeidigkeit, Disziplin und Ausdauer vereint.

Es kommt vor, dass jemand, inspiriert durch Filme, lernen will, wie man einen Backstein mit einem Handkantenschlag zerbröselt. “Dies ist möglich, aber die Leute, die es versuchen, riskieren Folgeschäden, wenn sie älter sind”, warnt der 41-jährige Fan Qiang. “Im Film sind diese Szenen getrickst. Deshalb empfehlen wir diese Art von Training nicht. Kommt jemand und will es trotzdem lernen, versuchen wir, ihn davon abzubringen.”

Mythische Meistergestalt

“Eines Tages einen Meister erkennen, bedeutet, einen Vater fürs ganze Leben zu gewinnen”, lautet eine chinesische Weisheit. Früher war die Beziehung Meister-Schüler etwas sehr Ernstes, weil Erstere die letzteren nach Kriterien der Tugend und der Moral auswählten. Heute funktioniert das Erlernen einer Kampfkunst ganz anders, kann sich doch jeder und jede für einen Kurs anmelden.

Haben die Martial Arts dadurch ihre Authentizität eingebüsst? “Im Training ist man wie in einer grossen Familie, die Schüler sprechen sich untereinander mit ‘Bruder’ und ‘Schwester’ an, wie in China”, erzählt Wu Yongmei. “Aber wir können nicht verlangen, dass sie uns ein Leben lang treu bleiben, geschweige denn, uns Tee zu bringen oder das Bett zu machen.”

Das Meister-Paar aber hält an gewissen Traditionen fest. So auch am korrekten Gruss der Schüler, bei dem die offene linke Hand vor der Brust die Rechte berührt, die zur Faust geballt ist. “Sie sagen aber ‘guten Tag Lehrer’ statt ‘Meister’. Würde mich jemand Meister nennen, würde ich ihm gegenüber mehr Verantwortung fühlen und ihm mehr geben als ein Lehrer”, sagt Wu Yongmei.

Einige Schüler kommen seit Jahren und fühlen sich dort als Teil einer grossen Familie. Das Leiterpaar nimmt auch solche auf, denen das Geld fehlt, um die Kurse bezahlen zu können. “Sie dürfen einmal kommen, um zu schauen. Sind sie wirklich vom Kampfsport begeistert, bringe ich es nicht übers Herz, sie wegzuweisen”, sagt die Lehrerin.

Man kommt überein, dass der Schüler so viel bezahlt, wie er kann, oder statt der Bezahlung kleinere Arbeiten wie etwa die Reinigung übernimmt. Oder er später bezahlt, wenn er mehr Geld haben wird.

Liebe auf den ersten Blick

Fan Qiang kam vor acht Jahren aufgrund einer Einladung als Gasttrainer in die Schweiz. Als Wu Yongmei davon erfuhr, lud sie den Träger des siebten Dans an ihre Schule ein, um ihn kennenzulernen.

Fan Qiang erinnert genau an damals: Als er durch die Türe trat, wusste er, dass es nur drei Sekunden dauern würde, bis er in die Gastgeberin verliebt war. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick. Er lernte die Lehrerin erst kennen, dann bewundern und beschloss, an ihrer Schule zu unterrichten. Umgekehrt war auch sie tief beeindruckt von Fan Qiang. Ihn beobachtend, bemerkte sie seine grossen Fähigkeiten als Lehrer, sowohl was das technische Niveau als auch die Theorie der Kampfkünste betrifft. Und aus dem professionellen wurde ein privates Einverständnis.

Heute sind sie Partner, was das Private und die Arbeit angeht, und sie verbringen fast die gesamte Zeit zusammen. Sie würden streiten, antwortet Wu Yongmei scherzhaft auf die Frage, was sie in ihrer gemeinsamen Freizeit machten. Essen und Schlafen, so die Antwort von Fan Qiang.

Tatsächlich arbeitet sie auch in ihrer Freizeit daran, mit Übungen ihre Ausdauer und ihren Kreislauf zu stärken, während er sich auch neben den Lektionen mit Kampfkunst beschäftigt.

Disziplin

Die Lektion rückt näher. Aus dem entspannten Paar werden, einmal in den weissen Kampf-Tenues, majestätisch-strenge Lehrer. “Guten Tag alle zusammen!” – “Guten Tag Lehrer!”: Es überrascht mich, den Gruss der zehn Schweizer Schüler zu hören, in korrektem Chinesisch und wie aus einem Mund kommend! Und es erinnert mich an meine Zeit als Schüler in China. Die beiden Lehrer haben offenbar die traditionellen pädagogischen Methoden aus ihrer Heimat mitgebracht. Disziplin gehört zu den Grundlagen der Martial Arts.

Es gibt aber Disziplin und Disziplin. In China ist es normal, dass Lehrer ihre Schüler, die sehr respektvoll sind, anschreien. “Hier in der Schweiz ist es anders. Schüler geniessen grosse Freiheiten und die Lehrer können ihnen nicht ihre Meinung aufdrängen. Das hat mich anfänglich irritiert”, räumt Fan Qiang ein. Für seinen Geschmack herrscht an Schweizer Schulen zu wenig Disziplin, an jenen in seiner Heimat dagegen zu viel. “Im Lauf der Zeit haben wir einen Mittelweg gefunden, der die Stärken der beiden pädagogischen Methoden vereint”, sagt Qiang.

Trotzdem erheben Wu Yongmei und Qiang manchmal die Stimme, aber nicht in der Art, wie es in China geschieht. Strenge Miene, die Hände auf dem Rücken verschränkt – Fan Qiang setzt auf Körpersprache, um dem Respekt, den die Kampfkunst erfordert, Nachachtung zu verschaffen, ist dies einmal nötig.

Die Blume im Garten

Was würden sie in China machen, hätte es sie nicht in die Schweiz verschlagen? Wu Yongmei wäre Geschäftsfrau geworden. “Ich hatte das Glück, dass ich im Geburtsland der Kampfkünste von klein auf Kampfsport betreiben konnte. Jetzt bin ich die Beste in der Schweiz. Würde ich etwas anderes machen, wäre ich dort nicht gezwungenermassen auch die beste. Wie sagt das Sprichwort: Die Blume blüht im Garten, ihr Duft aber geht darüber hinaus.”

Fan Qiang war in seiner Heimat an den Dreharbeiten für acht Actionfilme beteiligt, darunter den Martial-Arts-Klassikern Hero und Legend of the Condor Heroes. Wäre er in seiner Heimat geblieben, hätte er weiter als Meister gearbeitet und bei Filmen mitgemacht.

Ein Herz und eine Seele sind sie aber in der Frage nach dem Schönsten, was ihnen in der Schweiz passiert sei. “Dass wir uns getroffen haben”, antworten sie praktisch gleichzeitig.

(Übertragung aus dem Chinesischen: Jie Guo Zehnder)

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