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Wahlnacht 1936 in New York

Die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Isadora/leemage

Im Nachlass des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern befindet sich eine Reportage der 1908 geborenen Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach über die Nacht der US-Präsidentenwahl 1936 in New York. Im Spätsommer 1936 begab sich die Zürcher Industriellentochter zusammen mit einer Freundin, der Amerikanerin Barbara Hamilton-Wright, auf eine Reportagetour durch die nördlichen Industriegebiete der USA, von der sie im Februar 1937 wieder in die Schweiz zurückkehrte. Aus aktuellem Anlass publiziert swissinfo.ch den Bericht der bedeutenden Schweizer Schriftstellerin, die 1942 in Sils im Engadin verstarb.   

New York, Anfang Nov. – Der dritte November 1936 war für Amerika ein grosser Tag. Er würde – das wusste jeder amerikanische Bürger und Wähler – zu den wichtigen Daten der Geschichte Amerikas gezählt werden, und er bezeichnete ein Ereignis, das man an Bedeutung und Wichtigkeit nur der Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten, dem Ende des Sezessionskrieges, – und vielleicht noch der Unabhängigkeitserklärung vergleichen konnte. Aber das lag weit zurück, – die Frage hingegen, ob Roosevelt wiedergewählt oder von dem republikanischen Gegenkandidaten Alfred Landon geschlagen werden würde,- diese Frage entschied über Amerikas Zukunft.

Der grosse Tag verlief ruhig.

Es war ein gewöhnlicher, grauer Novembertag, -in den tiefen Strassenschluchten New Yorks mussten schon gegen Mittag die Lichter angezündet werden, gegen Abend begann es ein wenig zu regnen. Die Luft war warm, feucht, schwer und ziemlich ermattend. Und die ganze Stadt machte einen ermatteten Eindruck, – fast als wolle sich die vom Wahlkampf erschöpfte und gehetzte Bevölkerung eine Atempause gönnen, – wenige Stunden vor der Entscheidung, auf die man monatelang gewartet, für die man die ganze Nation monatelang vorbereitet hatte. Viele Geschäfte und die meisten Bureaus waren am dritten November geschlossen, das gab der Riesenstadt etwas Festtägliches. An manchen Strassenecken stauten sich die Leute um einen Redner, hörten ihm ein Weilchen zu, und setzten dann ihren Musse-Spaziergang mit Frau und Kindern fort. An anderen Ecken wurde gesungen, – eines der munteren Landstrassen-und Cowboy-Songs, die von Veteranen, Frauenligen, und republikanischen Comitees als Propagandamittel gepriesen werden, die aber viel zu volkstümlich sind, als dass sie nationalistisch oder parteipolitisch tendenziös wirken könnten. Und die politischen Strassenredner hatten auch nicht viel Erfolg, man war an sie seit Wochen gewöhnt, und ausserdem wusste jetzt Jeder schon, für wen er stimmen würde.

Amerika war wahlmüde, und das war nur allzu begreiflich.

Seit Monaten keine friedliche Jazzmusik am Radio ohne dass Father Coughlin demagogisch dazwischen donnerte, der abtrünnige Al Smith seinen einstigen Freund, den Präsidenten Roosevelt, ironisch verspottete, und beide von sachlichen demokratischen Abgeordneten widerlegt wurden. Seit Monaten keine Zeitschrift ohne ernsthafte oekonomische

Annemarie Schwarzenbach

Annemarie Schwarzenbach, Enkelin von General Ulrich Wille ist am 23. Mai 2008 in Zürich geboren und in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Sie studiert Literatur in Zürich und Paris.

Mit 22 Jahren lernt sie Erika und Klaus Mann kennen, die Kinder des Schriftstellers Thomas Mann. Sie teilt deren antifaschistische Haltung und distanziert sich von der eigenen Familie, die Hitlers wahre Natur lange Zeit verkennt.

1931 zieht sie nach Berlin, um sich ganz der Literatur zu widmen. Sie publiziert ihren ersten Roman “Freunde um Bernhard”.

Der Werdegang von Annemarie Schwarzenbach ist zumindest für die damalige Zeit sehr untypisch: Sie ist morphiumsüchtig, lesbisch und eine leidenschaftliche Reisende. Sie reist durch verschiedene Länder Europas, nach Persien (heute Iran) – wo sie 1935 den französischen Diplomaten Claude Clarac heiratet – nach Russland, in die USA. Im gleichen Jahr begeht sie den ersten Selbsttötungsversuch.

1939/40 reist sie mit der Walliser Schriftstellerin Ella Maillart nach Afghanistan.

Nach einer Reise in den Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) kehrt sie 1942 in die Schweiz zurück. Im gleichen Jahr stirbt sie nach einem Fahrradunfall in Sils (Graubünden).

Abhandlungen, kein Kino ohne Wochenschau-Familienszenen aus dem Privatleben der Präsidentschaftskandidaten, und in den Zeitungen war kaum eine Spalte frei, um über den spanischen Bürgerkrieg, den abgewerteten Franken, und den Scheidungsprozess der Mrs. Simpson zu berichten, die doch eine gebürtige Amerikanerin ist, und für die man sich in Amerika nun einmal leidenschaftlich interessiert, sogar während der Wahlkampagne. Seit Monaten mussten die vielen tausend Redakteure, die der Zeitungskönig Hearst beschäftigt, den schwierigen Beweis erbringen, dass Roosevelt die geheiligten Rechte der amerikanischen Konstitution verletzt habe, dass sein grosser Plan einer sozialen und oekonomischen Neuordnung, das “New Deal”, die amerikanische Freiheit bedrohe, und dass er deshalb geradezu ein Feind der amerikanischen Nation sei. Die Hearst-Presse machte ihre Leser glauben, dass Roosevelt das Geld der Steuerzahler, und besondere das der reichen Steuerzahler, für Seldwylergeschichten und Schwabenstreiche zum Fenster hinausgeworfen habe, dass die fruchtbaren Probleme der Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit von ihm aus purem Mutwillen übertrieben würden, um seine leichtfertige Politik zu rechtfertigen, oder dass sie, soweit sie unleugbar existierten, unvermeidlich, gleichsam von Gott beabsichtigt seien und sich in voller amerikanischer Freiheit auswirken müssten wie ein Fieber, dass man am besten gewähren lässt.

Aber wohin würde die freie Auswirkung der grossen amerikanischen Krisen-Krankheit führen?

Wenn das Banken-Sterben sich wiederholt, wenn die Sandstürme erstickend über den gewaltigen Erdteil Amerika fegen und das fruchtbare Farmland wüstenähnlich bedecken, wenn die Flüsse über ihre Ufer treten und die Felder verbrennen, wenn die hungernden Farmer das Heer der Arbeitslosen auf den Landstrassen vergrössern, was dann?

Wenn die freiheitsliebenden Bankiers von Wallstreet es nicht verhindern können, dass die Börse sich in ein Schlachtfeld wilder Spekulation verwandelt, wenn die Unternehmer und Fabrikbesitzer, die im Bunde mit Hearst das Recht des freien Konkurrenzkampfes fordern, ihre Fabriken mit elektrisch geladenem Stacheldraht einhegen müssen, um sich gegen ihre streikenden Arbeiter zu schützen, und wenn die Arbeiter von freiheitsdurstigen und machthungrigen „Racketeers“, sogenannten Gewerkschaftsführern betrogen werden, weil

diese Herren ebensoviel Interesse an der amerikanischen „Freiheit“ haben wie die Unternehmer, und einer ordentlichen staatlichen Organisation der Arbeiter-Gewerkschaften entgegenwirken, was dann? Wohin soll das alles führen?

Wem werden dann die schönen, alten amerikanischen Ideale noch zugute kommen?

Die Hearst-Redakteure schrieben, die Journalisten der demokratischen Tageszeitungen, der

Organe der Linksparteien, der liberalen, gemässigten, fortschrittlichen Blätter widerlegten sie. Es war ein grosser Kampf, Millionen wurden auf beiden Seiten dafür ausgegeben, und Jeder wusste, dass es um Amerikas Zukunft ging. Jeder verfügte über eine Unzahl von mehr oder minder klugen Argumenten, Jeder wusste sie rednerisch gewandt scheinbar sachlich und vernünftig vorzubringen. Die Demokraten waren volkstümlicher, die Republikaner hatten mehr Geld. In den New Yorker Kinos, während der Wochenschau, konnte man das genau 

feststellen: Wenn Landon, mit seiner lächelnden Gattin und einer Anzahl unmündiger Kinder, auf der Leinwand erschien, brachen die Zuschauer in den Kinopalästen mit hohen Eintrittsgeldern in Beifall aus, in den kleinen Kinotheatern der Aussenquartiere jubelte man Roosevelt zu. Trotzdem wusste man, am dritten November, eigentlich nicht, wie es ausgehen würde, und die wahlmüden Amerikaner beider Parteien schüttelten skeptisch die Köpfe und gaben zögernde Antworten.

Erst am Abend erwachte dann die steinerne Riesenstadt zum Leben.

Die Sternenbanner wehten, fröhliche Musikkapellen spielten, Konfetti und Papierschlangen flogen durch die Luft, die Restaurants servierten· ihre “Special Electionnight-Dinners“, die Clubräume wurden erleuchtet, der Broadway begann sich zu füllen, die Menge drängte nach Times Square, es herrschte Karnevalsstimmung. Und dann begannen in der ganzen Stadt, in allen Strassen, in jedem Lokal, die Radioapparate zu reden.

New York, das steinerne Herz Amerikas, atmete jetzt im Pulsschlag des ganzen Landes und verkündete die Stimmen seiner l20 Millionen Einwohner. In einem der vielen Frauenclubs, in einem feinen und stillen Quartier, wurde eine intime “Strohhalm-Wahl” durchgeführt, – jeder Eintretende, ob Mitglied oder geladener Gast, legte seinen Strohalm in einen der beiden bereitstehenden Papierkörbe: für Landon, oder für Roosevelt.

Und die meist schon bejahrten, grauhaarigen, vornehm biederen Damen stimmten fast alle für Landon und waren majestätisch-siegesgewiss. Sie versammelten sich im Festsaal, der, weitherzig nach echter, amerikanischer, freiheitsliebender Art mit den Abzeichen und Plakaten aller Parteien unterschiedslos geschmückt war. Über dem Eingang hing sogar eine rote Fahne mit Hammer und Sichel, daneben stand die lebensgrosse Karikatur Hearsts, des Zeitungskönigs, mit geldgierig und machtlüstern verzerrtem Antlitz, ein Hakenkreuz als

Orden auf der linken Brusthälfte.

Fast hätte man sich in einem Versammlungssaal in Moskau glauben können,

– wäre das Publikum nicht gewesen, diese typisch amerikanische, etwas sonderbare, politisierte, ältliche Damenschar. Der Lautsprecher verkündete die Resultate – alle zehn Minuten ein neuer Sieg Roosevelts, – und eine der Amazonen gab dazu ihre Kommentare.

Dazwischen rief sie einzelne Herren auf, die sich, Gatten oder Schwiegersöhne der Anwesenden, in die Versammlung verirrt hatten, und brachte sie durch ziemlich politische Kreuzverhöre in Verlegenheit. Als endlich aus Boston, der konservativsten Stadt Amerikas, ein vereinzelter Sieg der Republikaner gemeldet und mit lautem Beifall begrüsst wurde, erhob sich einer der vereinzelten Herren, ein schmalköpfiger, gescheit und angenehm wirkender Professor und hielt – freiwillig – eine kleine Ansprache.

Die Strohhalm-Wahl habe, sagte er, etwa 90 Stimmen für Landon und 75 Stimmen für Roosevelt ergeben, – aber von den 75 habe er allein 72 beigetragen, – was also bedeute, dass sich ausser ihm nur drei Anhänger Roosevelts in der Versammlung befänden. Man erwarte also wohl, von ihm Tröstliches für Landon zu hören – „Sie haben, weiss Gott, ein bisschen Trost nötig!“ – : aus dem überwältigenden Sieg Roosevelts gehe ja wohl hervor, dass die unteren, „niedrigeren“ Klassen für Roosevelt gestimmt hätten …

Die Versammlung der geschlagenen Damen nahm den beissenden Trost mit kummervoller Würde auf.

Während man in diesem und in ähnlichen konservativen Clubs immer noch hoffte, die spät eintreffenden Wahlresultate aus den ländlichen Staaten würden eine Wendung zugunsten von Landon ergeben, erklärten bereits die grossen Zeitungen, die Hearst-Blätter voran, die Widerwahl Roosevelts als gesichert.

Im Atelier einer jungen Modezeichnerin drängten sich eine Anzahl junger „Radikaler“,

Sozialisten, Kommunisten, Maler, Journalisten und Schriftsteller, um den kleinen Radiokasten, und debattierten heftig darüber, wieweit man die Wiederwahl Roosevelts begrüssen dürfe.

Roosevelt hat bisher redlich versucht, die Interessen der amerikanischen Privatwirtschaft mit seinem sozialen Programm zu vereinen, – eine Aufgabe, die ihn der extremen Rechten und der radikalen Linken verdächtig macht. Immerhin war man, im Atelier der Modezeichnerin, trotz einiger Befürchtungen, allgemein in glücklicher Erregung. Und während es hier recht friedlich zuging (wenn auch nicht so gedämpft-vornehm wie im Damenclub) erschienen am turmähnlichen Gebäude am Times Square immer häufiger die roten Lichtkreise, die einen neuen Sieg Roosevelts aus einer Stadt, einem Staat, einem Distrikt bedeuteten.

Um 1 Uhr nachts schickte der geschlagene Kandidat Alfred Landon ein Glückwunschtelegramm an Roosevelt,

und erklärte seiner Umgebung, dass er sich auf Entenjagd begeben werde. Die Radiosender verkündeten, dass der Präsident, auf dem Balkon seines Hauses im Hyde Park, sein berühmtes glückliches Lachen zeige. Am Times Square drängte sich eine unübersehbare Menschenmenge, man schrie, jubelte, tanzte und umarmte sich, man wurde gestossen und getreten, von Konfettischlangen, Musik, Scheinwerferlicht überschüttet.

Es kam zu keiner Strassenschlacht, – es war ein Fest: zu eindeutig und mächtig hatte sich durch diese Wahl der freie Wille der Nation geäussert. – 

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