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Die Volksinitiative, eine kaum reformierbare heilige Kuh

Die Anti-Minarett-Initiative entzündete 2009 eine Debatte über die Grenzen der direkten Demokratie. Keystone

Muss man Volksinitiativen mit grösseren Hindernissen versehen? Das ist die schwierige Frage, die sich angesichts des zunehmenden Gebrauchs des Hauptinstruments der schweizerischen direkten Demokratie stellt. Dabei ist sicher, dass das Schaffen einer Mehrheit zugunsten der Opferung eines Teils der Souveränität sehr schwierig sein wird.

Fünfzehn Initiativen, über die das Schweizer Stimmvolk noch abstimmen muss, ungefähr noch einmal so viel, deren Unterschriftensammlung noch läuft: Kaum je gab es in der Schweiz eine solch grosse Anzahl an Volksinitiativen. Dazu kommt, dass die Annahmequote in den vergangenen zehn Jahren markant zugenommen hat. Von den 22 Initiativen, die seit 1891 angenommen wurden, hiess das Stimmvolk deren neun in den vergangenen zehn Jahren gut.

“Viele dieser angenommenen Initiativen stehen im Gegensatz zum Völkerrecht, oder ihre Umsetzung ist nicht kompatibel damit. Deshalb gibt es verschiedene Bestrebungen zur Reform dieses demokratischen Instrumentes”, sagt Pascal MahonExterner Link, Staatsrechtsprofessor an der Universität Neuenburg.

Problematisch umzusetzen

Die angenommenen und wegen ihrer Unvereinbarkeit mit internationalem Recht als problematisch geltenden Initiativen sind: Straftaten im Zusammenhang mit Kinderpornografie (2008), das Verbot von Minaretten (2009), die Ausschaffung krimineller Ausländer (2010) und die Masseneinwanderungs-Initiative (2014). Diese Initiativen wurden entweder von der SVP initiiert oder zumindest unterstützt.

Jüngstes Beispiel: Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse präsentierte im April einen Katalog von MassnahmenExterner Link, um den Missbrauch des beliebten Volksrechtes zu verhindern. Konkret soll die Gültigkeit eines Initiativ-Texts bereits vor der Unterschriftensammlung durch die Bundeskanzlei geprüft werden. Dazu sollen die Anzahl der benötigten Unterschriften erhöht und eine Volksabstimmung über das Einführungsgesetz durchgeführt werden.

Geändert hat sich nichts

Einige Monate zuvor hatte Foraus, ein weiterer Think Tank, vorgeschlagen, dass alle Initiativen, die gegen Völkerrecht verstossen gleichzeitig eine obligatorische Abstimmung nach sich ziehen müssen, bei der über die Aufhebung des betroffenen völkerrechtlichen Vertrages abgestimmt wird. Der Vorschlag wirbelte einigen Staub auf, platzte er doch mitten in die Diskussionen um die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Initiative “gegen Masseneinwanderung”, die dem Personenfreizügigkeits-Abkommen mit der EU diametral widerspricht.

Astrid EpineyExterner Link, Rektorin der Universität Freiburg, forderte kürzlich in verschiedenen Schweizer Medien, dass nur noch über Initiativen abgestimmt werden soll, deren Text noch nicht genau ausformuliert ist.

“Von einem intellektuellen Standpunkt aus ist diese Debatte interessant, aber es stellt sich die Frage, wie man damit eine politische Mehrheit erreichen will. Grundsätzlich muss man feststellen, dass sich trotz all der Projekte und Vorschläge in den vergangenen Jahren nichts geändert hat”, sagt Georg LutzExterner Link, Politologe an der Universität Lausanne.

Unterschriften sammeln, ein Kinderspiel?

Diejenigen, die  für das Zustandekommen einer Initiative die Unterschriftenzahl erhöhen möchten, argumentieren mit dem Bevölkerungswachstum. Die im Jahr 1891 festgelegte Zahl von 50’000 Unterschriften entsprach damals 7,6% der Bürgerinnen und Bürger.

Nach Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 sank die Zahl auf 1,3%. Deshalb wurde die Anzahl der Unterschriften 1976 verdoppelt. Heute entsprechen die 100’000 benötigten Unterschriften einem Quorum von weniger als 2%.

Mit der Einführung der brieflichen Abstimmungen und Wahlen wurde das Unterschriftensammeln eher schwieriger. “Vor 20 Jahren waren die Wahllokale perfekte Orte, um Unterschriften zu sammeln”, sagt der Politologe Andreas Ladner. “Schwieriger ist es, die Menschen vor einem Supermarkt zu überzeugen.”

Die meisten Parteien geben zu, dass sie zuweilen auch schon Leute angestellt und bezahlt haben, um zu genügend Unterschriften zu kommen.

Eine heilige Kuh

Diese Stagnation erklärt sich vor allem mit der Tatsache, dass das Mittel der Volksinitiative in der Schweiz einer heiligen Kuh gleichkommt. “Die Mittel der direkten Demokratie wurden immer von den grossen Verfassungsreformen ausgeschlossen”, sagt Andreas Ladner, Professor am Institut für Höhere Studien in der öffentlichen Verwaltung (IDHEAP) in Lausanne. “Einen Vorschlag der Regierung, die Zahl der Unterschriften auf 150’000 statt 100’000 zu erhöhen, hat das Parlament im Rahmen seiner Beratungen zur Verfassungsreform 1999 abgelehnt.”

Dazu kommt ein weiteres Phänomen: Die traditionellen Parteien haben das Instrument der Volksinitiative in den vergangenen Jahren für sich entdeckt. Ursprünglich war die Initiative ein Mittel, um den im Parlament nicht oder kaum vertretenen Minderheiten Gehör zu verschaffen. Nun wurde sie zusehends auch zu einem Vehikel für das Politmarketing der grossen Parteien.

Opposition gegen Reformen 

“In den vergangenen zehn Jahren haben die im Parlament vertretenen Parteien fast ohne Ausnahme mindestens eine Volksinitiative lanciert”, sagt Lutz. “Sie haben also überhaupt kein Interesse, die Bedingungen für das Einreichen von Volksinitiativen zu verschärfen. Und die Politiker, die eigentlich eine Verschärfung möchten, getrauen sich kaum, das auch öffentlich zu sagen, weil sie Angst haben, sonst als Volksfeinde angesehen zu werden.”

Auf Ablehnung stiess im vergangenen Jahr ein Projekt des Bundesrats, der die Initiativtexte vor der Lancierung auf deren Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht prüfen wollte. Die staatspolitische Kommission des Ständerats hat eine Diskussion über die Rolle des Parlaments bei der Gültigkeitserklärung einer Volksinitiative begonnen. Auch hier zeichnet sich der Widerstand der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei und der Linken ab, also von jenen politischen Kräften, die am meisten von dem Mittel der Volksinitiative Gebrauch machen.

Dennoch werde es zu einer gewissen Selbstregulierung kommen, glaubt Ladner: “Das Volk hat seinen Überdruss in den vergangenen Monaten bereits ausgedrückt, indem es verschiedene Initiativen hoch abgelehnt hat.”

(Übersetzt aus dem Französischen: Andreas Keiser)

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