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Wenn die Gemeindefusion zu Identitätsverlust führt

Gehört dereinst auch Lugano-Paradiso zum "neuen Lugano", dem Fusionsprodukt von 2004? Keystone

Aus Kostengründen fusionieren in der Schweiz immer mehr politische Gemeinden. Aber wie steht es mit einem Heimatort, der als politische Gemeinde gar nicht mehr existiert? Diese Frage könne bei Bürgern zu Identitätsverlust führen, sagt ein Experte.

Rainer J. Schweizer, Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen, erklärt gegenüber swissinfo.ch, dass es für Bürgerinnen und Bürger aufgrund des Trends von Gemeindereformen und Fusionen zunehmend schwieriger werde, eine Beziehung zu ihrem Heimatort zu haben.^

Um administrative Kosten zu sparen, haben in den letzten Jahren immer mehr Gemeinden einer Fusion mit einer oder mehreren anderen zugestimmt. Das Resultat ist eine ganz neue Gemeinde mit neuem Namen.

Der Staatsrechtler Schweizer ist auch einer der Co-Autoren des Historischen Lexikons der Schweiz, eines akademischen Nachschlagewerks.

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Heimatort ist, wo das Herz ist

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Schweizerinnen und Schweizer erhalten ihren Heimatort im Normalfall durch ihren Vater. Das Dorf oder die Stadt bewahrt die Urkunden über die Herkunft der Familie auf, auch von Bürgerinnen und Bürgern, die nicht dort leben, und führt die Register mit den Angaben über Geburten, Heiraten und Todesfälle, wie sie früher in den Kirchenregistern erfasst wurden. Viele Schweizerinnen und…

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swissinfo.ch: Wie wichtig ist in der Schweiz der Heimatort heute noch?

Rainer Schweizer: Entscheidend ist, dass der Heimatort seine frühere Rolle als Ort, der sich um Sie kümmern musste, falls Sie in eine Notlage geraten wären, heute nicht mehr existiert. Heute fällt diese Aufgabe der Wohngemeinde zu.

Der Heimatort hat aber immer noch Bedeutung für die persönliche Identität, ein Element, dass bei vielen Menschen immer noch eine überraschend wichtige Rolle spielt, unabhängig von Alter und Herkunft. Es ist der Ort, von dem eine Familie ursprünglich stammt. Gewisse Gemeinden verwalten noch immer Gemeindewälder oder Berge, während andere zusätzliche Sozialleistungen ausrichten oder kulturelle Institutionen finanziell unterstützen.

swissinfo.ch: Wie haben sich bürgerliche Rechte und Pflichten in den Heimatgemeinden im Verlauf der letzten Jahre verändert? 

R.S.: In der Schweiz gibt es eine enorme Welle von Gemeindefusionen, ein Trend, der die Identifikation mit einem Ort immer schwieriger macht. Das Justizministerium aktualisiert laufend die Liste der Bürgergemeinden (Heimatorte), die heute keine eigene politische Gemeinde mehr sind. Und der Trend ist ungebrochen. Besonders extrem ist er im Kanton Glarus, wo viele Gemeinden sich zusammenschlossen (zu Nordglarus und Südglarus, die Red.).

Es ergibt keinen Sinn, wenn jemand aus Nordglarus kommt. Das ist ein Witz. Was ist Nordglarus? Das ist keine Gemeinde, sondern ein Bezirk. Es geht hier um eine Reihe von Gemeinden, die zusammengeschustert wurden. Ich bin sehr skeptisch. Das grosse Problem mit der Reform im Kanton Glarus ist, dass die kommunale Demokratie aufgegeben wurde, Bürgerinnen und Bürger sind nicht mehr lokal beteiligt.

Der Trend ist, dass der Bürgerort an Bedeutung verliert, obschon es immer noch sehr von der jeweiligen Region abhängt. Im Tessin zum Beispiel ist die Herkunft, der Heimatort, immer noch sehr wichtig, weil die Oberschicht immer noch stark ist. Auch in den Kantonen Schwyz, Luzern und Bern spielt das Konzept der Bürger- oder Burgergemeinde noch eine wichtige Rolle, während es in anderen Kantonen viel seiner Bedeutung verloren hat.

1990 gab es in der Schweiz noch 3201 politische Gemeinden. Aufgrund von Gemeindefusionen sank die Zahl bis Anfang 2012 auf noch 2495.

Die kleinste Gemeinde ist Corippo im Tessin mit 20 Einwohnern, die grösste Zürich mit 370’000.

Der Rückgang ist in der Schweiz aber viel weniger einschneidend als in Nachbarländern, weil die direkte Demokratie die Erosion der Gemeindeautonomie abbremst.

In Deutschland und Österreich ist die Zahl der Gemeinden im Verlauf von 50 Jahren um die Hälfte gesunken, in der Schweiz nur um 17%.

swissinfo.ch: Könnte der Wohnort nicht einige der Funktionen des Heimatorts übernehmen?

R.S.: Einige Kantone sagen, die Einwohnergemeinde könne die Funktionen des Heimatorts, der Bürgergemeinde, übernehmen. Sie haben die Bürgergemeinde mit der Einwohnergemeinde fusioniert und alle können Anteil haben an den Gütern der Gemeinde. Der Trend begann in den 1970er-Jahren, hat sich jedoch im Verlauf der letzten 20 Jahre beschleunigt. Es ist offensichtlich eine Entwicklung, welche die Bedeutung des Heimatorts untergräbt.

Bei Ausländerinnen und Ausländern, die das Bürgerrecht erhalten, ist jener Ort von Bedeutung, wo sie leben. Ich kenne Deutsche an der Universität St. Gallen, die das Schweizer Bürgerrecht erwerben wollen. Und sie sind sehr darauf bedacht, es von der Stadt St. Gallen zu erhalten. Es gibt einen Wunsch, durch das Bürgerrecht mit dem Wohnort verbunden zu sein. Dies gilt für Immigranten, aber auch für Schweizer. Ein Mitglied einer Zürcher Zunft will vielleicht Bürger eines Dorfes im Kanton Aargau werden und so unterstreichen, dass er dorthin gehört.

swissinfo.ch: Worauf geht das Konzept des Heimatorts zurück?

R.S.: Das Konzept des Bürgerrechts mit einer lokalen Verbindung, die [damit verbundenen] Mitwirkungsrechte und Rechte auf einen Anteil der Besitztümer der Gemeinde, geht weit zurück. Die Ausdrücke ‘Bürger’ oder ‘Burger’ stammen aus dem 9. Jahrhundert und bezeichneten damals Leute, die in der Umgebung von Burgen lebten. In späteren Jahrhunderten waren dies jene Leute, die in Städten Boden besassen oder zu einer Stadt oder anderen Einheit auf dem Lande gehörten.

Die Bedeutung des Bürgerrechts nahm im 19. Jahrhundert zu, als die alten Burger wieder auftauchten und als in der ganzen Schweiz staatsbürgerliche Rechte eingeführt wurden.

Es waren Handwerker und Handelsleute, die staatsbürgerliche Rechte in Städten von Dijon bis Lübeck einführten. Im Alpenraum richteten die Einwohner lokale Selbstverwaltungsorgane ein, von Slowenien bis hin nach Frankreich. In der Schweiz hatten wir Selbstverwaltung durch die kantonalen Einrichtungen der Landsgemeinden unter offenem Himmel. Ausserhalb der alpinen Gebiete gab es nur Feudalherrscher oder auf dem Land Bauern und Dorfbewohner ohne besondere Rechte.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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