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“Wir bestimmen, wie das Klima in 50 Jahren aussieht”

Reuters

Das beste Management des Klimawandels liege darin, sich ein Klimaziel zu setzen, sagt Thomas Stocker. Laut dem renommierten Berner Klimaphysiker muss sich der Mensch dem Klimawandel anpassen, soweit dies überhaupt noch möglich sei - denn dieser finde bereits hier und jetzt statt.

Für Thomas Stocker, Leiter der Arbeitsgruppe I, welche die wissenschaftlichen Grundlagen für den 5. Weltklimabericht (IPCC-Report) erstellt, ist der Kampf gegen den Klimawandel noch nicht verloren. Aber mit jedem Jahr, in dem keine Reduktionen der Emissionen erreicht würden, werde es schwieriger.

swissinfo.ch: In Ihrer Funktion sind Sie quasi für die Voraussage der Lebenserwartung dieses Planeten verantwortlich. Ist das nicht eine enorme Belastung?

Thomas Stocker: Ich bin ja nicht allein, sondern leite diese Arbeitsgruppe zusammen mit einem chinesischen Kollegen und dem Büro in Bern. Die intellektuelle Knochenarbeit, die hinter diesem Bericht steckt, lastet auf den Schultern der 258 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unserer Arbeitsgruppe.

Wir in Bern koordinieren, diskutieren, organisieren den Prozess und helfen bei den Formulierungen. Diese müssen so aufbereitet sein, dass der wissenschaftliche Jargon auf einem Minimum gehalten wird, damit unsere Aussagen auch für die politischen Entscheidungsträger verständlich sind.

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In der Kristallkugel der Klimatologen ziehen Wolken auf

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Klimamodelle sind immer falsch. Wie jede wissenschaftliche Theorie, schaffen sie es nie, die Realität komplett abzubilden. Das sagen nicht nur die Skeptiker der Klimaforschung, sondern auch Forscher, die sich mit Klimastudien beschäftigen. Ein Widerspruch? Überhaupt nicht, sagen die Experten. “Die Resultate einer Klima-Modellierung liefern uns wichtige Hinweise. Sie helfen, verschiedene Aspekte und Prozesse zu verstehen…

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swissinfo.ch: Und was kann man in der Klimaforschung nicht voraussagen?

T.S.: Überraschungsereignisse etwa. Obwohl da intensiv geforscht wird, ist es hier sehr schwierig, Projektionen zu machen. Ein Beispiel: Es gibt Teile der Antarktis, die unterhalb des Meeresspiegels liegen und durch die Erwärmung des Meeres und den Anstieg des Meeresspiegels destabilisiert werden könnten. Das ist ein physikalischer Prozess, den wir verstehen, aber nicht präzise zu einem Zeitpunkt voraussagen können.

Ein anderes Beispiel wäre die Reaktion des Regenwaldes in den tropischen Gegenden. Was passiert dort, wenn sich als Folge der Erwärmung die Niederschlagszonen verschieben? Auch hier sind Voraussagen extrem schwierig, weil wir ein Analog noch nicht erlebt haben.

Thomas Stocker hat an der ETH Zürich Umweltphysik studiert und 1987 mit dem Doktorat abgeschlossen. Nach Forschungsaufenthalten am University College (London), an der McGill University (Montreal), an der Columbia University (New York) wurde er 1993 als Professor an das Physikalische Institut der Universität Bern berufen, wo er die Abteilung für Klima- und Umweltphysik leitet.

Nach 10 Jahren Engagement im Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UNO wurde er 2008 zum Vorsitzenden der Arbeitsgruppe I (WG I) gewählt. Zusammen mit dem Chinesen Dahe Qin führt der 54-jährige Berner Professor das Team von 250 Autoren, das für den 5. IPCC-Bericht die wissenschaftlichen Grundlagen erarbeitet.

Stocker erhielt für seine Arbeiten den Nationalen Latsis Preis, den Dr. Honoris Causa der Universität Versailles und die Hans Oeschger Medaille der European Geosciences Union. 2012 wurde er Fellow der American Geophysical Union.

swissinfo.ch: Also keine schlaflosen Nächte?

Schlaflose Nächte nicht, aber wenn irgendetwas schief läuft, werde ich erklären müssen, wie es dazu gekommen ist. Wir haben in den letzten vier Jahren alles unternommen, um Fehler zu vermeiden und den Prozess so transparent wie möglich zu machen. Man muss aber klar sagen, dass wir Fehler nicht ausschliessen können, denn es ist eine Arbeit, die von Menschen durchgeführt wird.

swissinfo.ch: Wie kann man Klima-Voraussagen machen, wo doch so viele Unbekannte mit im Spiel sind? Z.B. die wirtschaftlichen Entwicklungen in einem Land wie China. 

T.S.: Sie sprechen hier von Unsicherheiten im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Hier definiert die Wissenschaft Szenarien einer technologischen Entwicklung oder Szenarien, wo Interventionen der Politik bezüglich Emissionsreduktionen angenommen werden.

Es gibt aber eine zweite Kategorie der Unsicherheiten, die mit dem Verständnis des physikalischen Systems Erde zu tun hat. Wie gut können wir etwa den Niederschlag oder die Aufnahme der Wärme in den Weltozean simulieren? Das bringt Unsicherheiten, aber es ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, diese zu quantifizieren und zu reduzieren.

swissinfo.ch: Auf welchen Gebieten hat die Klimaforschung grosse Fortschritte gemacht, und wo ist sie noch lückenhaft?

T.S.: Es gibt verschiedene grosse Fortschritte, etwa in der globalen Beobachtung, wo Satelliten messen, um wieviel Grönland und die Antarktis abschmelzen. Diese Daten standen vor sieben Jahren noch nicht zur Verfügung. Diese Messungen erlauben uns jetzt, ein in sich konsistentes Bild des heutigen Anstieges des Meeresspiegels zu zeichnen. Wir wissen, dieser Meeresspiegel-Anstieg kommt aufgrund des weltweiten Rückzugs der Gletscher, der Erwärmung des Ozeanwassers und seiner Ausdehnung, plus aufgrund der Abschmelzung von Grönland und der Antarktis zustande.

Ein weiterer Fortschritt ist, dass die Modelle besser geworden sind, sie haben eine feinere Auflösung. Allerdings sind wir noch nicht soweit, dass wir für jede der Regionen sowohl die Temperaturveränderung wie auch den Niederschlag, und vielleicht noch die Statistik der Extremereignisse vorausprojizieren können.

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swissinfo.ch: Das Klimasystem ist hoch komplex, die Zusammenhänge kompliziert. Sie kommunizieren Fakten, Modelle, aber auch offene Fragen. Wie sollen sich Laien da ein Bild machen können?

T.S.: Der Laie muss zunächst einmal zuhören. Wir können die Resultate des wissenschaftlichen Berichts nicht in einem einzigen Satz mitteilen. Wir beobachten die Erwärmung weltweit, messen den Anstieg des Meeresspiegels, die Veränderung der Niederschlagsgebiete und das Abschmelzen der Eisschilder Grönlands und der Antarktis.

Das alles, zusammen mit dem Verständnis der Physik des Klimasystems plus die Modelle, die aufgrund dieses Verständnisses gebaut werden, erlaubt uns schliesslich, ein schlüssiges Bild zu ziehen von dem, was bisher passiert ist, was die Ursachen dafür sind und wie es in den nächsten Jahrzehnten unter den verschiedenen Szenarien weitergeht.

swissinfo.ch: Die breite Bevölkerung will doch einfach wissen, was auf die Menschheit in Sachen Klima zukommt…

T.S.: In einem Satz würde ich es so sagen: Wir haben die Wahl: es liegt in der Hand der Weltbevölkerung, wie das Klima in 50 oder 100 Jahren aussehen wird, wie stark sich welche Regionen erwärmen, wie viel trockener oder feuchter es wird, mit welcher Zunahme von Extremereignissen wir rechnen müssen, und wie viel Meeresspiegel-Anstieg. Unsere Wahl besteht darin, die weltweiten Emissionen der Treibhausgase zu bestimmen.

Am Bericht der Arbeitsgruppe I zu den wissenschaftlichen Grundlagen beteiligen sich 258 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hinzu kommen 600 so genannte beitragende Autoren weltweit.

Der Bericht stützt sich auf fast 10’000 begutachtete wissenschaftliche Studien, die bereits publiziert sind.

Bei zwei weltweiten Begutachtungen plus einer weiteren durch Regierungen gingen beim Büro, das seit 2009 an der Universität Bern eingerichtet ist, über 54’000 Kommentare ein.

In der Einflussnahme durch Regierungen sieht Thomas Stocker kein Problem, da die Kommentare nach wissenschaftlichen Kriterien angeschaut werden.

Der 1. Teil des 5. IPCC-Rapport wird am 27. September in Stockholm veröffentlicht, die zwei weiteren Berichte plus die Synthese 2014.

swissinfo.ch: Gibt es Fehler, die in der Vergangenheit von Klimaforschern begangen wurden und in Zukunft unbedingt vermieden werden sollten?

T.S.: Fundamentale Fehler in den bisher publizierten Klimaberichten der drei Arbeitsgruppen sind mir keine bekannt. Es gab kleinere Fehler, wie beispielsweise die Frage nach den Gletschern im Himalaya, die korrigiert wurden.

Die grundlegenden Aussagen aber, die in diesen Berichten publiziert wurden, haben verschiedene Stresstests überstanden und stehen nach wie vor als das kondensierte und zusammengefasste Wissen der Klimaforschung da.

swissinfo.ch: Naturkatastrophen scheinen sich in den letzten Jahren zu häufen. Ein Zufall? Oder stehen sie im Zusammenhang mit dem Klimawandel?

T.S.: Das ist eine schwierige Frage. Der IPCC hat dazu im November 2011 einen Spezialbericht publiziert. In diesem wissenschaftlich komplexen Gebiet konnten wir bereits verlässliche Aussagen bezüglich den Extremereignissen machen, die mit der Temperatur (Hitzewellen) oder starken Niederschlägen (Überschwemmungen) zu tun haben.

Anders sieht es bei Wirbelstürmen aus, die wirtschaftlich ebenfalls von höchster Relevanz sind. Hier ist es der Wissenschaft jedoch noch nicht möglich, zuverlässige Aussagen darüber zu machen, wann wo welcher Typ Wirbelsturm stärker oder häufiger werden wird.

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swissinfo.ch: Kann man die Klimaveränderung managen?

T.S.: Das beste Management des Klimawandels liegt darin, sich ein Klimaziel zu setzen und zu sagen, so viel Klimaveränderung wollen und können wir uns noch leisten. Die Vereinbarung des 2-Grad-Ziels war zumindest auf dem Papier ein ganz wichtiger Schritt.

Die grosse Frage ist jetzt natürlich, was bedeutet ein 2-Grad-Celsius-Ziel? Welche Massnahmen müssen auf globaler Ebene ergriffen werden, um dieses Ziel zu erreichen? Denn wenn wir nichts machen und die Emissionen fossiler Brennstoffe weiter fortschreiten wie bisher, dann werden diese Klimaziele dahinschmelzen wie der Schnee an der Sommersonne.

Eindeutig und unbestritten ist, dass die weltweiten CO2-Emissionen massiv reduziert werden müssen, wenn wir eine Chance haben wollen, das gesetzte Klimaziel zu erreichen.

Die Anpassung an den Klimawandel muss auf jeden Fall stattfinden, denn viele Menschen sind bereits vom Klimawandel betroffen, nicht nur in den Küstengebieten, sondern auch Menschen in Gebirgsregionen, etwa der Schweiz, wo wir eine verstärkte Erwärmung und ein verstärktes Auftauen des Permafrost als Konsequenz der Erwärmung erleben.

swissinfo.ch: Sie sprechen von der Anpassung an den Klimawandel und nicht von dessen Bekämpfung. Heisst das, der Kampf ist bereits verloren?

T.S.: Der Kampf ist noch nicht verloren, aber mit jedem Jahr, in dem keine Reduktionen der Emissionen erreicht werden, rückt das vereinbarte Klimaziel weiter weg, bis es dann endgültig verschwindet. Anpassung ist notwendig, denn der Klimawandel findet bereits hier und jetzt statt. Die Frage ist, wieweit wir uns überhaupt anpassen können.

In einzelnen Regionen ist eine Anpassung gar nicht mehr möglich, wenn zum Beispiel wichtige Ressourcen zum Leben nicht mehr zur Verfügung stehen. Wie etwa Land, das durch den Anstieg des Meeresspiegels bedroht wird, oder Wasser, das benötigt wird, um Ökosysteme zu betreiben. Im Mittelmeer gibt es bereits Gebiete, die von grosser Austrocknung betroffen sind.

swissinfo.ch: Die Erde hat sich seit mehr als 10 Jahren nicht weiter erwärmt, das gibt den Klimawandel-Skeptikern Auftrieb. Beeinträchtigt diese Entwicklung Ihre Glaubwürdigkeit?

T.S.: Nein, da muss man sich einfach daran erinnern, was die Klimaforschung schon seit vielen Jahren sagt: Klima ist nicht, was wir heute und morgen als Wetter erleben. Eine Aussage über den Zustand des Klimas erfordert genaueste Messungen über lange Zeit, typischerweise 30 Jahre, oder mehrere hundert Jahre. Man muss also Statistiken erstellen. Dank der Qualität weltweiter Messungen können wir die Temperatur 150 Jahre zurückverfolgen und erkennen die deutliche Erwärmung.

Wir sehen aber auch, dass es immer wieder 10 Jahre gegeben hat, wo die Erwärmung oder ein Temperaturtrend ziemlich anders verlief als das, was man heute als langfristigen Trend erkennt. Es ist irreführend, wenn wir jetzt aus diesen 10 Jahren schliessen würden, die Klimaerwärmung sei vorbei – das ist wissenschaftlich nicht haltbar.

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