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“Islam bietet eine strukturierte Lebensweise”

Konvertiten praktizieren den Islam häufig strenger als gebürtige Muslime. Im Bild eine telefonierende Muslimin mit Gesichtsschleier. Keystone

Konvertiten dominieren die Islamdebatte in der Schweiz. Die Berner Religionswissenschaftlerin Susanne Leuenberger hat in ihrer Dissertation das Phänomen untersucht. Sie führte zahlreiche Interviews und informelle Gespräche mit Schweizerinnen und Schweizern, die zum Islam konvertiert sind.

Warum irritieren und verunsichern islamische Konvertiten die Schweizer Gesellschaft so stark?

Susanne Leuenberger: Konvertiten konfrontieren uns mit unserer eigenen unheimlichen Fremdheit respektive unserer Vorstellung des Fremden. Plötzlich sind wir selber diese Figuren auf den SVP-Plakaten [Plakate der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei]. Konvertiten machen es unmöglich, uns ganz vom Islam als etwas Fremdes abzugrenzen, weil sie gleichermassen Schweizer und Muslime sind. Der Islam kann somit nicht mehr nur als Religion der Fremden gesehen werden.

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Oft hört man von Konvertiten, die an Terrorakten – vereitelten oder vollendeten – beteiligt waren. Das wirkt ganz konkret bedrohlich.

Ja, auch das Umfeld von al-Qaida besteht vor allem aus “wiedergeborenen Muslimen” – konvertierten und gebürtigen. Eine Minderheit von Konvertiten fühlt sich durch den fundamentalistischen Islam angezogen – dieser muss jedoch nicht gewalttätig sein. Die meisten Konvertiten sind aber ganz normale Bünzli. Man muss versuchen, den Islam in der Schweiz von all dem zu trennen, was im Irak, in Saudi-Arabien, im Iran oder in Afghanistan läuft. Die Muslime in der Schweiz sind sehr gut integriert, und es gibt bislang kaum Probleme.

Konvertiten wie Nicolas Blancho vom Islamischen Zentralrat Schweiz fördern diese Integration aber nicht gerade.

Blancho sagt selbstbewusst, er wolle in der Schweiz als korantreuer Muslim mit Bart und Gebetsmütze auftreten können, ohne mit diesem Habitus als jemand wahrgenommen zu werden, der Attentate verübt. Das ist heute offenbar nicht möglich. Darum bringt Blancho die Diskussion auch nicht weiter. Ich denke, es wäre ein langer Weg, bis irgendwann die bärtigen Männer oder Burkaträgerinnen nicht mehr Angst machen oder als unschweizerisch gelten.

Wie konvertiert man zum Islam?

Das ist sehr einfach: Man muss nur vor zwei Zeugen das Glaubensbekenntnis, die Schahada, sprechen. So wie das Christentum ist der Islam ja eine missionierende Religion. Die Eintrittshürde darf also nicht zu hoch sein.

Ist die Zahl der Konvertiten so stark gestiegen, wie dies die öffentliche Diskussion erwarten lässt?

Es gibt keine offiziellen Zahlen. Ich schätze, etwa 10 000 der 400 000 Muslime in der Schweiz sind Konvertiten. Tendenziell konvertieren seit einigen Jahren vermutlich etwas mehr Leute zum Islam, der Anstieg steht aber in keinem Verhältnis zur Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Diese ist geprägt von einer Medienhysterie und wohl auch von der Propaganda islamischer Organisationen.

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Trotzdem gibt es immer mehr Konvertiten. Was bedeutet das für den Islam in der Schweiz?

Seit der Minarett-Initiative steigt das Bedürfnis der Muslime in der Schweiz, sich gegen aussen zu repräsentieren und gegen innen zu definieren, was der Islam in der Schweiz überhaupt ist, sein soll und sein kann. An diesem Prozess sind viele Konvertierte beteiligt. Sie kennen unser Staatswesen, können sich gut artikulieren und die Rechte der Muslime souverän einfordern. Einen Konvertiten kann man nicht einfach dorthin zurückschicken, wo er herkam. Dadurch wird auch klar, dass der Islam längst auch eine Schweizer Religion geworden ist.

Stimmt es, dass vor allem junge Männer zum Islam konvertieren?

Vielleicht konvertieren heute mehr junge Männer als früher. Traditionell ist die Konversion aber ein weibliches Phänomen und hängt oft mit einer Liebesbeziehung zusammen. Es sind meist Frauen, die hier oder im Ausland einen Moslem kennen lernen und wegen dieser Beziehung zum Islam konvertieren.

Was fasziniert Junge am Islam?

Er bietet vielen das, was ihnen das nüchterne Christentum und vor allem die Landeskirchen nicht mehr bietet: Gemeinschaftsgefühl, klare Regeln und einen Glauben, der den gesamten Alltag strukturiert. Dann sind viele auch von der Mystik und der orientalischen Ästhetik fasziniert. Gerade für Junge ist zudem das Fremde und vielleicht auch etwas Unheimliche anziehend.

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Ist eine Konversion auch eine neue Form der Rebellion? Mit was sonst kann man heute noch seine Eltern schocken?

Ja, für einige ist es das tatsächlich. Der Widerstand der Eltern und des ganzen Umfelds ist bis zu einem gewissen Grad wohl auch konstitutiv. Äussere Abgrenzung hilft, die eigene Identität zu artikulieren. Gewisse Konvertiten suchen wohl bewusst oder unbewusst Aufmerksamkeit, die ihnen mit dem Übertritt zum Islam garantiert ist. Es geht aber selten nur um Rebellion, eine innere Überzeugung ist auch dabei.

Auf der religiösen Sinnsuche landen Jugendliche manchmal bei Sekten oder fundamentalistischen Freikirchen. Bietet sich der Islam als neue Alternative an?

Der Islam bietet eine strukturierte Lebensweise mit Gebeten, Fasten, geordneten Geschlechterverhältnissen und kann damit Halt und Orientierung geben. Auch viele Muslime in der Schweiz wollen nicht für immer sozusagen die unmögliche Gemeinschaft bleiben, sondern den Islam als alternative Lebensweise etablieren – auch für Schweizer.

Wird intensiv missioniert?

Bisher wurde vor allem unter gebürtigen Muslimen missioniert, um sie wieder stärker an die islamische Gemeinschaft zu binden. Der Islamische Zentralrat ist nun eine der ersten Organisationen, die auch unter Nichtmuslimen missionieren. Der Druck ist aber nicht stärker als bei gewissen christlichen Freikirchen.

Es gibt Fälle, bei denen sich unauffällige Jugendliche schlagartig in Bart tragende Islam-Prediger verwandeln. Was passiert hier?

Das kann man als adoleszente Identitätssuche verstehen. Junge Menschen können auf diesem Weg sehr radikal sein. Der abrupte Wandel dient gerade in der Anfangszeit auch dazu, einen klaren Bruch mit der vorherigen Identität sich selbst und dem Umfeld gegenüber zu markieren. Zugleich muss ein Konvertit in seiner neuen Gemeinschaft auch beweisen, dass er es ernst meint, indem er versucht, alles richtig zu machen. Gerade anfangs praktizieren Konvertiten deswegen oft sehr strikt. Meist legt sich der anfängliche Elan mit der Routine.

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Werden Konvertiten als vollwertige Muslime akzeptiert?

Ja, die Muslime in der Schweiz freuen sich als stigmatisierte Minderheit über jeden Konvertiten. Oft gibt es in der Moschee ein grosses Fest, wenn jemand aus der Mehrheitsgesellschaft konvertiert. Für jede Religion ist der Konvertit ein lebender Beweis für die Überlegenheit der eigenen Überzeugung. Gleichzeitig müssen sich Konvertiten auch anpassen. Keine Gemeinschaft hat es gerne, wenn ein Neuling sich zu selbstbewusst gibt.

Konvertiten nehmen oft wichtige Funktionen in islamischen Gemeinschaften ein. Wie kommt das?

Weil Konvertierte sowohl Schweizer als auch Muslime sind, fällt ihnen die Rolle als Vermittler zu. Was jeder Konvertit individuell leistet, nämlich eine Anpassung des Islams an den eigenen kulturellen und sozialen Hintergrund, gestaltet er auch im Kollektiv mit. So sind viele konvertierte Männer als Sprecher oder Vorstandsmitglieder von Gemeinschaften tätig. Und konvertierte Frauen sind oft im Bereich der Kindererziehung tätig. Insgesamt sind Konvertiten also sehr aktiv im Prozess der Ausformulierung islamischer Formen in der Schweiz, den wir zurzeit beobachten.

Was denken Sie über islamische Konvertitinnen und Konvertiten? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren.

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