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Mythos Gotthard

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Mythos Gotthard

Daniele Mariani / Carlo Pisani


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Welches ist der bekannteste Berg der Schweiz? Das Matterhorn, werden viele antworten. Und welcher verkörpert die Schweiz am besten? Ausländische Leserinnen und Leser werden vielleicht um eine Antwort ringen. Vielleicht aber gerade auch nicht, und sie werden wie ein Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer ohne zu zögern antworten: Der Gotthard.

Zentrum der Alpen, Wiege der Eidgenossenschaft, Symbol des Willens zur schweizerischen Unabhängigkeit und Einheit, Sinnbild für die Innovationskraft und den Mut einer ganzen Nation… Kein anderer Ort spielte und spielt noch immer eine derart wichtige symbolische Rolle wie das Gotthardmassiv. Mit der Betonung auf Massiv, denn tatsächlich gibt es keinen Berg mit diesem Namen.

Bald schon wird es möglich sein, dieses Massiv noch schneller als bisher schon zu durchqueren. Der Gotthard-Basistunnel, der längste und tiefste Bahntunnel der Welt, wird Anfang Juni 2016 eröffnet. Im Zug werden die 57 Kilometer in etwa 20 Minuten durchfahren. 20 Minuten unter 3500 Metern Fels. Und 20 Minuten unter einem Bergmassiv voller Geschichten und Mythen, eng verbunden mit der Schweizer Identität. Doch wer nimmt dies noch wahr, wenn die Hochgeschwindigkeitszüge erst einmal durch die Alpen rasen werden?





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Erstfeld - Wassen

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Es ist Ende Juni. Die Wettervorhersagen prognostizieren eine tolle Woche. Kein Regenschutz nötig in unseren Rucksäcken. Nur ein Notizblock, ein Mikrofon und all das andere Material, das es braucht, um die Reiseeindrücke festzuhalten.

Wir starten in Erstfeld, ein Dorf, dessen Geschichte unzertrennlich mit jener der Gotthardbahn verbunden ist. Mit der Eröffnung der Bahnstrecke 1882 wurde aus dem kleinen Bauerndorf eine wichtige Eisenbahnstation. Nicht zufällig befindet sich in Erstfeld eines der drei historischen Depots der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB).

Carl Waldis, pensionierter Lehrer, "leidenschaftlicher Eisenbahner" und Reiseführer, zeigt uns einige Wagen und Lokomotiven, welche die Geschichte der Eisenbahn geprägt haben. Darunter auch das legendäre "Krokodil".

Bevor wir aber über Eisenbahnen sprechen, sollten wir erst einmal die Uhr der Geschichte etwas zurückdrehen. Während Jahrhunderten war der Gotthard nur einer unter vielen Pässen über die Alpen. Und sicher nicht der Wichtigste, sagt der Historiker Ralph Aschwanden, Journalist beim Urner Wochenblatt. So hätten weit mehr Güter und Personen beispielsweise den Brenner oder den Grossen St. Bernhard überquert.

Gegenüber anderen Pässen habe der Gotthardpass aber immer einen Vorteil gehabt: "Er ist die kürzeste Strecke vom Norden in den Süden", erklärt Aschwanden. "Zwischen dem Langensee und dem Vierwaldstättersee liegen lediglich 140 Kilometer. Und das ist wichtig, denn im Mittelalter wurden die meisten Waren auf dem Wasser transportiert."

Doch es gab auch Unwägbarkeiten. "Es war schon immer ein harter Weg." Ein Weg, der Schluchten umgehen musste, wie die Schöllenen, die bis Anfang des 13. Jahrhunderts unmöglich zu passieren war. Für die Einheimischen war die Säumerei aber seit Urzeiten eine Einnahmequelle, betont Aschwanden. Und Waldis ergänzt: "Bis zu zwei Drittel der Bewohner des Kantons Uri hingen vom Säumerwesen ab."

In Silenen, vier Kilometer südlich von Erstfeld, machen wir eine kleine Pause vor jenem Gebäude, in dem sich die erste Sust für die Säumer und Reisenden befand, die von Flüelen am Vierwaldstättersee kamen. "Der Transport nach Bellinzona wurde von Säumer-Zünften organisiert, von denen jede eine ganz bestimmte Strecke betrieb", erzählt Waldis. Laut einem Dokument aus der ersten Hälfte der 700er-Jahre waren täglich bis zu 300 Saumtiere unterwegs.

Die Notwendigkeit, die Wege am Pass zu unterhalten – und die relativ hohe Einkommensquelle, die er bot – waren vermutlich mit ein Grund für den Abschluss der ersten Allianzverträge unter den Kantonen der Urschweiz zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert. Abkommen, die den Samen säten von dem, was in späteren Jahrhunderten die Schweizerische Eidgenossenschaft wurde. Es überrascht deshalb wenig, dass – besonders im 19. Jahrhundert – diese Region und ihre legendären Helden – von Wilhelm Tell bis Arnold Winkelried – zu wahren Gründungsmythen führten.



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Wir gehen weiter auf dem Saumpfad. Oberhalb von Amsteg, auf dem Hügel Flüeli, stossen wir auf einen anderen dieser Mythen, die Ruine der Burg Zwing Uri, eine im 13. Jahrhundert erbaute Festung. Diese soll – laut der Legende, nicht durch historische Quellen bestätigt – während eines Aufstandes gegen die Habsburger geschleift worden sein. Der Hügel ist aber auch aus einem anderen Grund wichtig: Bei Ausgrabungen kamen hier Funde aus der mittleren Bronzezeit (um 1500 v.Chr.) zum Vorschein, was auf eine menschliche Besiedlung schon im Altertum schliessen lässt.

Wir folgen der Bahnstrecke talaufwärts. Das Tal wird nun sehr eng, und die Strasse beginnt zu steigen. Die Landschaft wäre atemberaubend, würde sie nicht immer wieder zerschnitten durch die Autobahn, die das Reusstal etwas weniger poetisch erscheinen lässt.

In Gurtnellen erinnert eine Fotografie an die Überschwemmungen von 1987 und daran, wie das Wasser die Kräfte der Natur entfesseln kann. Wir sind schon Dutzende Mal über den Gotthard gefahren. Vielleicht erkennen wir aber erst zu Fuss, dass Bahn und Autobahn nicht nur aus Viadukten und Tunneln bestehen. Überall sehen wir Lawinenverbauungen, Schutzmauern, Stahlnetze gegen Steinschlag, Warnsysteme und ehemalige Bahnwärterhäuschen…
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Es war vor fast 150 Jahren eine Herkulesaufgabe, in diese Landschaft eine Eisenbahnlinie zu bauen. "Der Chefingenieur Wilhelm Konrad Hellwag und seine Kartografen und Geologen befragten die hier wohnhaften Leute, wo nach schweren Regenfällen die Lawinen und Wassermassen herunterkamen, um so die Linienführung und den Lawinenschutz festzulegen", erklärt Waldis. Nichts sei dem Zufall überlassen worden. Die Linienführung habe in all den Jahren nicht um einen Zentimeter verändert werden müssen.

Nach etwas über drei Stunden erreichen wir Wassen. Zuerst besuchen wir die weisse Kirche, die sich auf einem Hügel mitten im Tal befindet. Eine Kirche, die manchmal wie eine Fata Morgana erscheint, und die man aus dem Zug mehrere Mal sieht. Wassen ist für eines der zahlreichen Kunststücke der Eisenbahntechnik bekannt: Drei Kehrtunnel ermöglichen es hier der Eisenbahn, auf ein paar wenigen Kilometern fast 100 Höhenmeter zu gewinnen. Im Zug hat man deshalb das Gefühl, eine Weile an Ort zu reisen. Während einigen Minuten ist die Kirche immer da: rechts, links, oben, unten…
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Wassen - Andermatt

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Wir verlassen Wassen in den frühen Morgenstunden. An diesem Dienstag Ende Juni ist die Temperatur schon fast tropisch. Schwierig, sich vorzustellen, dass dieses Dorf zwei Jahre vor der Eröffnung der Eisenbahnlinie fast 3000 Einwohner zählte. Die meisten davon waren auf der Baustelle angestellte Arbeiter. Heute leben noch etwas über 400 Menschen im Dorf.

Der Saumweg klettert auf der Westseite des Tales empor. Wir kommen am ehemaligen Haus eines Bahnwärters vorbei, weit abgeschieden. In den ersten Jahrzehnten der Eisenbahn im Reusstal mussten die Gleise und Infrastrukturbauten täglich von Bahnwärtern kontrolliert werden, die oft mit ihren Familien in diesen kleinen Häusern lebten. Alle drei Kilometer gab es ein solches Wärterhaus. Der Einsatz von besserem Stahl und von Messgeräten machte diese Kontrollen an Ort und Stelle bald überflüssig, und diese Häuser wurden weitgehend aufgegeben.

Nachdem wir eine falsche Abzweigung genommen hatten und machten, was man nie tun sollte –zu Fuss entlang der Bahnlinie laufen, um einen Aufstieg zu umgehen – erreichen wir Göschenen. Vor dem Eingang des "alten" Eisenbahntunnels denken wir an die tausenden von Arbeitern, die hauptsächlich aus Norditalien stammten und hier gearbeitet haben. Dabei erinnern wir uns an die Worte von Carl Waldis.

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Offiziell sind beim Tunnelbau 177 Arbeiter umgekommen. Laut Angaben von Carl Waldis könnte die Zahl aber viel höher liegen, nämlich sogar bei rund 500 Opfern. So seien beispielsweise verletzte Arbeiter, die nach der Rückkehr in ihre Heimat gestorben seien, nicht mitgezählt worden.

Während die Arbeitsbedingungen im Tunnel extrem schwierig waren, sah es im Freien auch nicht viel besser aus. Die Arbeiter wurden unter ungesunden Bedingungen auf Dachböden und in Baracken untergebracht, ohne fliessendes Wasser und Toiletten. Der einzige Anreiz war der Lohn, der leicht über jenem auf anderen Baustellen lag. Ein Bergmann verdiente etwas mehr als 100 Franken im Monat, von denen zusätzlich zu den wiederkehrenden Aufwendungen die Mietgebühr für die Öllampe (5 Franken) und die Miete (zwischen 15 auf 20 Franken für ein Doppelzimmer) abgezogen wurden.
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In Göschenen müssen wir in die Schmalspurbahn nach Andermatt wechseln. Wegen eines Erdrutschs ist der Wanderweg gesperrt. Das Tal verengt sich hier zu einem schmalen Spalt.

In Andermatt angekommen, 300 Meter höher im Urserntal gelegen, laufen wir etwas zurück, um diese enge Passage aus der Nähe zu betrachten. Wir blicken hinunter in die Schöllenenschlucht, ein neuralgischer Punkt der Gotthardstrasse, während Jahrhunderten unpassierbar. Erst zwischen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts gelang es, die Schlucht mit einer Fussgängerbrücke zu überwinden. Dann wurde die Teufelsbrücke gebaut, und die Schlucht war besiegt.

Es ist genau an diesem Ort, wo die Geschichte des Gotthards wirklich begonnen hat. Dank der Hilfe des Teufels, der – wie die Legende erzählt – die Brücke erbaute, im Tausch für die erste Seele, die über die Brücke schreiten würde… Die listigen Urner jagten als erstes Lebewesen eine unglückliche Ziege über die Brücke.

In die rechte Felswand der Schlucht wurde ein imposantes Denkmal mit kyrillischen Schriftzeichen hineingemeisselt. Es erinnert daran, dass 1799 hier eine blutige Schlacht zwischen der Armee des russischen Generals Suworow und napoleonischen Truppen stattgefunden hat. Suworow überquerte mit seinen 21'000 Soldaten die Pässe Gotthard, Lukmanier und Oberalp – ein Unterfangen, das von einigen mit jenem Hannibals verglichen wird, und das zu einer Legende der russischen Militärgeschichte wurde.

Auch wenn dies die einzige Kriegslegende der Region ist, so atmet der Gotthard trotzdem viele soldatische Geschichten. Es reicht ein sorgfältiger Blick auf die Felswände, um zu erkennen, dass das Gebiet durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Überall lugen Kanonenrohre hervor.

Damit haben wir aber bereits in der Zeit vorgegriffen. Hier ist es noch zu früh, um über die jüngste Vergangenheit zu sprechen. Oben auf dem Pass werden wir noch die Möglichkeit haben, selber in Bunker zu steigen. Denn jetzt holen uns die Bulldozer und Kräne, die Andermatt gegenwärtig bevölkern, zurück in die unmittelbare Gegenwart.


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Andermatt - Gotthardpass

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Andermatt ist ein Skigebiet, das sich ein wenig im Niedergang befand. Doch die Ankunft des ägyptischen Unternehmers Samih Sawiris weckte das Dorf aus seinem Dornröschenschlaf. Er investierte hunderte Millionen Franken in neue Tourismusanlagen. In der Hochebene Richtung Hospental, die einst der Armee als Übungsgelände diente, warnt ein Schild die Wanderer vor "fliegenden Golfbällen".

Die Inschrift auf der Fassade der Kapelle St. Karl in Hospental fasst die Geschichte dieser alten Kreuzung der Völker perfekt zusammen: "Hier trennt der Weg, o Freund, wo gehst du hin? Willst du zum ew'gen Rom hinunterziehn? Hinab zum heil'gen Köln, zum deutschen Rhein, nach Westen weit in's Frankenland hinein?"

Wir ziehen in Richtung des ewigen Roms hinunter. Oder besser gesagt, zuerst geht es steil bergauf. Noch ein Dutzend Kilometer, und wir werden die Passhöhe erreicht haben. Der Wanderweg schlängelt sich entlang der alten Gotthardstrasse, um 1830 herum erbaut, und auf dem antiken Saumweg.

"Bis zur Eröffnung der Eisenbahn 1882 wurde der Pass das ganze Jahr hindurch genutzt. Um den Schnee zu stampfen, ging man mit Ochsen voraus, und die Kutschen wurden durch Pferdeschlitten ersetzt", erklärt Carlo Peterposten, Direktor des Nationalen St. Gotthard-Museums, der uns auf dem Weg erwartet. Mit der Kutsche habe man von Basel nach Mailand zwei Tage gebraucht. Mit Maultieren hingegen habe die Reise von Flüelen bis Mailand um die zehn Tage gedauert.

Ein riesiger Lüftungsschacht erinnert uns daran, dass sich einige hundert Meter unter uns der Gotthard-Strassentunnel befindet. "Die Strasse, die Eisenbahn, aber das ist nicht alles: Über uns befinden sich auch ein internationaler Luftkorridor und eine Flugroute der Zugvögel", sagt Peterposten.

Nachdem wir an der Festung San Carlo – ehemals Armeefestung, heute ein Hotel – vorbeigekommen sind, erblicken wir das Schild "Gotthardpass 2106 m". Wir haben es geschafft. Wir stehen auf der Passhöhe des Alpenübergangs, der dem Benediktiner-Bischof Gotthard von Hildesheim gewidmet ist, der 1131 heiliggesprochen wurde.
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Die Passhöhe ist ein geografischer und kultureller Treffpunkt, wie Peterposten unterstreicht. Sie ist aber auch eine bedeutende Wasserscheide. Vier grosse Flüsse haben ihre Quelle hier: Rhein, Rhone, Reuss und Ticino.

Wegen seiner zentralen Lage galt das Gotthardmassiv lange Zeit als der höchste Punkt in den Alpen, bis man 1716 den Fehler erkannte.
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Bald geht die Sonne unter. Langsam verschwinden die Autos und Motorräder. Es kehrt wieder Ruhe ein. Auch wird es etwas kühl, aber nicht zu stark. "An Abenden wie diesem kann ich mich erholen", sagt Urs Ortelli, Direktor von Hotel und Hospiz St. Gotthard. Das faszinierende an diesem Ort sei, dass er jeden Tag "Leute aus ganz Europa treffe".

Wir treten ein in das strenge und herrliche Hospiz, das kürzlich renoviert wurde und seit 1237 hier steht. Jedes Zimmer ist nach einer bekannten Persönlichkeit benannt, die hier vorbeigekommen ist: Goethe, Honoré de Balzac, Victor Hugo, Rossini, Petrarca… Unser Zimmer ist dem russischen Anarchisten Michail Bakunin gewidmet. Wir schlafen, eingelullt von der Geschichte.

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Gotthardpass - Airolo

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Die Sonnenstrahlen, die am nächsten Morgen die kleinen Seen und die Berge um uns herum beleuchten, verströmen ein Gefühl von Ruhe. Doch es ist ein trügerischer Frieden. Der Himmel kann sich hier sehr rasch in eine Hexenküche verwandeln. Wir sind mitten in den Alpen. Tausende Reisende haben dies mit dem Leben bezahlen müssen. Als der später heiliggesprochene Karl Borromäus (1538-1584) den Gotthardpass besucht habe, sei er an derart vielen Skeletten von unglücklichen Reisenden vorbeigekommen, so dass er deren Beisetzung anordnete, erzählt Peterposten. Dort steht heute die Totenkapelle, erbaut direkt neben einem Felsspalt.

Wir hingegen gehen in einen anderen, von Menschenhand gemachten Felsspalt hinein. Nur einige hundert Meter vom Hospiz entfernt finden wir uns vor einem riesigen gepanzerten Tor. Damian Zingg, Betriebsleiter der Stiftung Sasso San Gottardo, führt uns durch die Festung Sasso da Pigna, eine Bunkeranlage, die zwischen 1941 und 1943 erbaut wurde und bis 2001 als geheim eingestuft war. Ein relatives Geheimnis: Einige Dutzend Meter neben dem Eingang fuhren täglich tausende Autos vorbei, und mit wachsamem Auge entdeckt man leicht die Kanonenrohre, die etwa hundert Meter über dem Eingang die Passhöhe bewachen.


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Das Reduit – ein Verteidigungsdispositiv, das der Generalstab der Schweizer Armee nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ins Leben rief, und das sich auf Festungsbauten in der Alpenregion, besonders im Gotthardmassiv konzentrierte – wurde zum Symbol des Verteidigungswillens des Schweizer Volks und der Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft. Dank diesem habe die Schweiz eine Invasion verhindern können.

Doch das ist ein moderner nationaler Mythos, wie das Historische Lexikon der Schweiz schreibt. Ein Mythos, der besonders in den 1990er-Jahren in Frage gestellt wurde, als Historiker anfingen, die Verflechtung der wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Interessenverflechtungen mit Hitler-Deutschland zu untersuchen, was die Rolle des Reduits eher in den Hintergrund habe treten lassen.

Diese Strategie des Bunkerbaus in den Alpen wurde nach der Kapitulation Nazideutschlands aber nicht aufgegeben. Während des Kalten Kriegs wurde im Berginnern wacker weitergebaut. Erst nach dem Untergang der UdSSR und der Verkleinerung der Armee wurden dann viele dieser Bunker aufgegeben. Einige sind heute Museen.
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Nach der kleinen Erfrischung in den kilometerlangen Tunneln, wo das Thermometer bis auf sieben Grad sinken kann, finden wir uns in sommerlichen Temperaturen wieder.

Wir erreichen die Tremola, ohne Zweifel DAS Symbol der Gotthardstrasse. Sie ist ein wahres Kunstwerk der Neuzeit und sieht heute noch genauso aus, wie 1951, als ihr Bau abgeschlossen worden war.

Auf einem Kilometer Luftlinie schafft sie mit 24 Kurven 340 Höhenmeter. Einige mutige Radfahrer stellen sich der alten Passstrasse aus Pflastersteinen. Autofahrer in ihren Oldtimern lassen die alten Zeiten aufleben, als das Auto König und eine Autoreise ein Abenteuer war.

Nachdem man die engen Kurven passiert hat, öffnet sich das Tal. Fünfhundert Meter weiter unten sehen wir das Dorf Airolo und einen Teil des Leventinatals. Bei der Kaserne Motto Bartola erwartet uns Edoardo Reinhart. Dieser Touristenführer des Vereins Freunde des Fort Airolo führt uns zu einem Stall, im Tessin Rustico genannt. Ein Rustico mit einer Sicherheitstür?


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Hier kann man selber Hand anlegen. Wir staunen noch einmal darüber, wie kreativ die Menschen sind, wenn es darum geht, Kriegsgerät zu entwickeln. Wir sind aber auch froh, dass wir wieder hinaus an die frische Luft gehen können. Die szenische Ausstattung des Artilleriewerks Foppa Grande, die an alte James-Bond-Filme erinnert, gewürzt mit einem Hauch von Horror, wirkt nicht sehr beruhigend auf uns. Es würde niemand erstaunen, wenn plötzlich der Geist eines unglücklichen Soldaten auftauchen würde.

Doch für heute haben wir noch immer nicht genug von Bunkern. Es bleibt noch einer zu besuchen, der älteste und schönste von allen: Das Fort Airolo. Mit seinem tiefen Festungsgraben erinnert es etwas an eine mittelalterliche Burg. Wenn da nicht ein Detail wäre: "Es war eines der ersten vollständig zugedeckten Forts in Europa", erzählt uns Reinhart. Das Dach – ein Bauwerk aus Granit, an einigen Stellen bis zu acht Meter dick – erinnert an den Panzer einer Schildkröte.

Das Fort wurde von 1886 bis 1889 erbaut. "Es war dafür gedacht, den Gotthard-Eisenbahntunnel zu verteidigen, auf den Italien hätte Anspruch erheben können, weil es zu dessen Finanzierung beigetragen hatte", sagt Reinhart.

Auch wenn es heute über hundertjährig ist, wird das Fort von der Armee noch als Unterkunft genutzt. In einem anderen Teil befindet sich ein Museum. Zusätzlich zum Schutz der oberen Leventina hat die Festung aber noch eine weitere Besonderheit: Ein Tunnel verbindet sie direkt mit dem Eingang des Eisenbahntunnels. "Die Idee war, dass man den Eisenbahntunnel falls nötig hätte sprengen können; so hätte, auch wenn die italienische Armee die Region eingenommen hätte, deren Sieg keine strategische Bedeutung mehr gehabt."

Wir betreten nun diesen Verbindungstunnel. Er ist einen Kilometer lang, ein paar Meter breit und ebenso hoch. Er erscheint uns endlos. Zum Glück funktioniert die eingebaute Beleuchtung perfekt. Ab und zu fühlen wir Luftströme, die sich verschieben. "Das ist, wenn ein Zug durch den Tunnel fährt", erklärt unser Führer.

Schliesslich erreichen wir Airolo. Nach einem langen Tag als Höhlenmenschen gibt es nichts Schöneres, als sich in einem Restaurant an den Tisch zu setzen und die Spezialitäten des Südens zu geniessen.

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Airolo - Pollegio

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Der Verkehr auf der Autobahn bewegt sich flüssig. Das ist fast schon ein Ereignis auf diesem Nord-Süd-Korridor, den jeden Tag durchschnittlich etwa 15'000 Autos und 2300 Lastwagen befahren. Es ist nicht ein ewiger Stau, aber viel fehlt nicht dazu. Der Verkehr staut sich so oft, dass der Gotthard auch zu einem Symbol für den Kampf der Umweltschützer gegen den Transitverkehr in den Alpen geworden ist.

Heute begeben wir uns auf die letzte Etappe. Um von Airolo nach Pollegio zu gelangen, geben wir wie geplant die Wanderschuhe ab und steigen für die Talfahrt auf der alten Kantonsstrasse auf das Fahrrad um.

Nach einer langen Hochebene erreichen wir das Dazio Grande in Rodi-Fiesso, eines der symbolträchtigen Gebäude der Gotthardstrasse. Das beeindruckende Zollhaus befindet sich an einer sehr strategischen Position, rund hundert Meter entfernt von der Piottinoschlucht, die jeder durchqueren musste, der hier vorbei kam.

Wie wir schon in der Schöllenenschlucht feststellen konnten, liessen sich die Urner – bis 1798 die "Besitzer" des Leventinatals – nicht einschüchtern von natürlichen Hindernissen. Warum diesen Engpass der Leventina mit einem viel längeren Weg umgehen, wenn man dort eine Strasse bauen konnte? Gesagt, getan. 1561 war sie fertig. Doch nun verlangten die Urner einen Wegzoll dafür.

In einem der prachtvollen Restaurantsäle dieses alten Zollhauses hängt an der Wand eine alte Tarifliste. "Die Besitzer von Tanzbären, die von hier weiterreisten, mussten 37,5 Lire bezahlen; die gleiche Summe wie Passagiere im Wagen", erzählt uns Mariapia Conconi, Gerantin im Dazio Grande.

Wer mit dem Auto oder der Eisenbahn hier durchfährt, sieht praktisch nichts von der grandiosen alten Strecke durch die Schlucht. An einer Stelle hat ein Erdrutsch fast die gesamte Strasse weggefegt. Wenn sich die Natur entfesselt und das Wasser entlang dieser Felsen schiesst, muss das Spektakel beeindruckend sein.



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Wir erreichen Faido. Das Dorf hatte sich zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg zu einer Sommerfrische entwickelt. Es sei damals sogar vergleichbar mit St. Moritz gewesen, sagt Diana Tenconi, Kuratorin des Museo di Leventina, die wir am Nachmittag unseres letzten Tages treffen. Das Talmuseum in Giornico wurde kürzlich umgebaut.

Nach dem Abstieg aus der Biaschinaschlucht, die von einem enormen Autobahnviadukt überragt wird, ist die Temperatur merklich angestiegen. Wir sind nun zurück in der Ebene. Unser Ziel rückt näher. Der letzte Zwischenhalt ist in Giornico, eine kleine mittelalterliche Perle mit sieben Kirchen und zwei romanischen Brücken.

Nun folgt der Endspurt. Noch ein paarmal ins Pedal treten, und kurz nach Bodio stossen wir auf den gigantischen Bohraufsatz einer Tunnelfräsmaschine. Er wurde für die Bohrarbeiten des neuen Eisenbahntunnels benutzt und ist nun am Strassenrand abgestellt. Er hat seine Arbeit getan. Nun wurde er zu einem Denkmal für die Moderne.

Einige Dutzend Meter weiter befindet sich das Südportal des Gotthard-Basistunnels. In einigen Monaten werden hier die fahrplanmässigen Züge verkehren. Damit kann der Berg der Geschichte und der Mythen im Nu durchfahren werden. Und mit der Geschwindigkeit wird vielleicht sogar der Mythos Gotthard langsam verschwinden. Vielleicht aber wird in dieser Legende damit auch ein weiteres Kapitel aufgeschlagen.


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Autor
Daniele Mariani
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Videos und Bilder
Carlo Pisani

Produktion
Luca Schüpbach
Christoph Balsiger
Kai Reusser

@swissinfo.ch
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Alla scoperta del forte Foppa Grande

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