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“Armut ist ein Zukunftsthema”

Hugo Fasel setzt auf frühe Bildung gegen die Armut. Keystone

Zum ersten Mal hat sich diese Woche eine nationale Konferenz mit der Armut in der Schweiz beschäftigt. Im Kampf gegen die Armut spielten die frühe Bildung und damit die Chancengleichheit eine zentrale Rolle, sagt Caritas-Direktor Hugo Fasel.

swissinfo.ch: An der Armutskonferenz haben vorwiegend Leute, die Armut nur vom Hörensagen kennen, schöne Reden gehalten. Ist die Schlusserklärung mehr als nur ein Papiertiger?
Hugo Fasel: Die Schlusserklärung ist der Start in einen Prozess. Es ist immerhin zu bemerken, dass der Bund jetzt bereit ist, die Armut als Thema an die Hand zu nehmen.

Bisher waren Fragen der Armut Sache der Kantone und Gemeinden. Jetzt sieht der Bund ein, dass er eine Koordination, eine Führungsfunktion wahrnehmen muss, besonders im Bereich des Arbeitsmarktes.

Dass die Leute einen Job bekommen und nicht einfach ausgesteuert werden. Heute werden monatlich 2000 Leute aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert, und morgen sind sie bei der Sozialhilfe. Hier beginnt man jetzt, einzusteigen.

Diese Armutskonferenz war die erste. Man kann ein paar Dinge besser machen, kann Betroffene besser einbinden. Da gibt es sicher noch Lernprozesse.

swissinfo.ch: Warum ist Armut in der reichen Schweiz überhaupt ein Thema?

H.F.: Lange war die Frage eben kein Thema. Man wollte nicht darüber reden, dass in der Schweiz jede 10. Person von Armut betroffen ist. Es ist wirklich neu und durch diese Armutskonferenz bestätigt worden, dass wir in der Schweiz ein echtes Armutsproblem haben.

swissinfo.ch: Wo steht die Schweiz in der Armutsbekämpfung im Vergleich mit ihren Nachbarländern?

H.F.: Internationale Vergleiche sind extrem schwierig. Wir sehen beispielsweise in der Familienpolitik, da sind die Nordländer viel weiter. Heute haben wir in der Schweiz 260’000 von Armut betroffene Kinder. In den Nordländern tut man in diesem Bereich wesentlich mehr. In anderen Bereichen sind die Vergleiche viel schwieriger anzustellen.

swissinfo.ch: Viele Menschen in der Schweiz schämen sich, Sozialhilfe zu beziehen. Andere beziehen sie missbräuchlich. Ist das System nicht ungerecht?

H.F.: Es gibt in der Schweiz insgesamt wenig Missbrauch. Die ganze Armuts-Debatte dient nicht dazu, neue Leistungen der Sozialhilfe auszulösen, sondern dazu, Armut zu verhindern.

Wir wollen Jugendlichen nicht Sozialhilfe geben, sondern eine Lehrstelle, damit sie anschliessend nicht arm sind, weil sie kein genügendes Einkommen haben. Wir wollen nicht einfach Sozialhilfe an Familien geben, weil sie mehrere Kinder haben, sondern die Kinderzulagen erhöhen, Ergänzungsleistungen gewähren, damit die Kinder eine gute Ausbildung haben und später nicht in die Armut kommen. Das ist der zentrale Unterschied.

swissinfo.ch: Der Bildung kommt also eine Schlüsselrolle zu im Kampf gegen die Armut?

H.F.: Bildung ist einer der zentralen Punkte. Jugendliche ohne guten Abschluss haben Schwierigkeiten, sich am Arbeitsmarkt durchzusetzen. Ältere Arbeitnehmende, die lange keine Weiterbildung hatten, haben zwar noch ihre ursprüngliche Ausbildung, sind aber nicht mehr marktkonform ausgebildet, das heisst: Weiterbildung ist ebenfalls ein ganz zentraler Punkt.

swissinfo.ch: Arme haben oft auch weniger Zugang zu neuen Medien wie etwa dem Internet. Ist der digitale Graben auch ein Thema?

H.F.: Wir sind ganz am Anfang mit all diesen Fragestellungen. Armut ist ein Querschnitt-Thema: Es betrifft Bildung, Sprachkenntnisse, die Zahl der Kinder, die soziale Herkunft.

Das heisst, wir müssen für die verschiedensten Ursachen verschiedenste Instrumente einsetzen. Waren bereits die Eltern arm, sind wahrscheinlich auch die Kinder eher arm, weil heute beispielsweise die elektronische Ausrüstung fehlt.

Ich hatte einmal die Idee, dass heute ab der dritten, vierten Klasse alle einen günstigen Laptop haben sollten. Wer das nicht hat, der fällt in der Schule gegenüber anderen zurück. Das ist fehlende Chancengleichheit.

swissinfo.ch: Für die Dritte Welt gibt es das Projekt “One Laptop per Child OLPC”. In der Schweiz scheint dies aber kein Thema zu sein.

H.F.: Es ist tatsächlich äusserst spannend: So wie früher in der Schweiz jedes Kind seine Schiefertafel oder später seine Schulhefte hatte, haben heute beispielsweise in Uruguay ab einem bestimmten Alter alle Kinder einen einfachen Laptop, weil das ein wesentlicher Teil von Chancengleichheit ist.

swissinfo.ch: Laut einer aktuellen Studie besitzen 3% der Bevölkerung die Hälfte aller Vermögen der Schweiz. In letzter Zeit wird die Schere zwischen Arm und Reich in der Schweiz grösser. Warum?

H.F.: Das Problem ist tatsächlich, dass die Verteilung des Reichtums in der Schweiz ungerechter wird. Wir haben eigentlich finanziell keine “Notwendigkeit”, Armut zu haben. Die Mittel sind da. Es ist rein eine Frage der Verteilung.

Deshalb müssen wir für genügend gute Löhne sorgen. Eine Familie, die nur über 3000 Franken Lohn verfügen kann, deren Existenz ist nicht zu schaffen. Wir dürfen nicht Jobs anbieten, von denen man nicht leben kann und bei denen der Staat zusätzliche Leistungen erbringen muss.

swissinfo.ch: Armut und Alter war ein Thema, das an der Konferenz marginalisiert wurde. Warum?

H.F.: Bei einer so grossen Veranstaltung geraten immer einige Themen in den Hintergrund. Auch nicht gesprochen wurde über Armut und Gesundheit. Wir wissen ganz genau, dass arme Leute weniger lange leben. Darüber wurde auch nicht geredet.

Deshalb begrüsse ich, dass der Bundesrat jetzt vorsieht, mindestens alle zwei Jahre eine solche Konferenz einzuberufen und in der Zwischenzeit auch aktiv an den Fragen zu arbeiten. Da werde ich mich von der Caritas her intensiv dafür einsetzen, dass solche Fragen nicht untergehen.

Um die Armut zu definieren, hat die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) drei Aspekte hervorgehoben: Alltagskosten, Krankenkassenprämien und Miete.

Die Grenze zur Armut variiert von Person zu Person: Für eine Einzelperson liegt die Grenze bei 2300 Fr. Monatseinkommen, für eine Einelternfamilie mit zwei Kindern bei 3900 Fr., bei einer Zweielternfamilie mit zwei Kindern bei 4800 Fr.

2007 errechnete das Bundesamt für Statistik, das sich auf die Definition der SKOS stützt, dass 9% der Personen im arbeitsfähigen Alter unter der Armutsgrenze leben.

Andere Referenzwerte zur Armut in der Schweiz sind die Zahlen der Sozialhilfe und der Working Poor (Personen, die keinen existenzsichernden Lohn mit ihrer Arbeit verdienen).

2008 lebten in der Schweiz 3,8% Working Poor und 2,9% Sozialhilfebezüger.

1. Ein Armutsbericht von jedem Kanton. Um gute Politik machen zu können, sollten die Entwicklungen bekannt sein.

2. Verstärkung der Integrationsmassnahmen in den Arbeitsmarkt. Heute gebe es zwar viele Integrations-Instrumente, aber diese seien untereinander nicht abgestimmt.

3. Wirtschaft in die Pflicht nehmen. Diese soll existenzsichernde Löhne bezahlen.

4. Mehr soziale Firmen. Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgesteuert wurden, sollen die Chance haben, später wieder in eine Arbeit zurückzufinden.

Der 1955 geborene Freiburger ist seit Oktober 2008 Direktor des Hilfswerks Caritas Schweiz.

Zuvor war der Ökonom und Gewerkschafter von 1991 bis 2008 Nationalrat der Christlich-sozialen Partei.

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