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“Die heutige Gesellschaft hat Mühe, sich in Frage zu stellen”

Jacques Hainard in der Ausstellung "Scenario catastrophe" im Ethnografie-Museum in Genf. Keystone

Jacques Hainard, Direktor des Ethnographie-Museums in Genf, ist bekannt für seine provokativen Szenografien und möchte die Ethnologie und ihr kritisches Potential einem breiteren Publikum bekannt machen.

Für das Museum, das über eine in der Schweiz einmalige Sammlung verfügt, bestehen Ausbaupläne.

Mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Sarkasmus verkörpert Jacques Hainard auf wunderbare Weise seinen Beruf, die Ethnologie, eine Wissenschaft, die den Menschen mit Empathie und ihren Institutionen, Sitten und Mythen mit kritischer Distanz begegnet.

Während vielen Jahren leitete Jacques Hainard das Ethnographie-Museum Neuenburg und machte es weit herum bekannt. Die oft irritierenden Ausstellungen vermittelten auf besonders gelungene Weise den spezifischen Blick der Ethnologie, der die Riten und Fetische unserer postindustriellen Epoche entschlüsselt, die einst nur den als primitiv geltenden Gesellschaften zugeordnet wurden (im heutigen Sprachgebrauch: erste Gesellschaften).

Seine Ausstellungen trugen vielsagende Titel wie: “Körpereinsatz”, “Das Böse und der Schmerz”, “Das Loch”, “Marx 2000”, “Pom pom pom pom”, “Kunst bleibt Kunst”, “Das kannibalische Museum”, “X – Spekulationen über die Imagination und das Verbotene”.

Von den Behörden nach Genf berufen, leitet Jacques Hainard seit 2006 das Ethnographie-Museum Genf, eine ehrwürdige, auf engem Raum untergebrachte Institution. Der Bau eines grösseren Gebäudes für die Sammlungen des Museums wurde von der Genfer Bevölkerung abgelehnt.

swissinfo: Welche Auswirkung hat ein ethnologischer Blick in der heutigen Zeit auf die Schweiz?

Jacques Hainard: Die Ethnologie ist bei einem grossen Teil der Bevölkerung nicht sehr bekannt. Wir werden oft gleichgesetzt mit Historikern oder Archäologen, während unsere Arbeit sich jedoch damit beschäftigt, die Gegenwart und die heutige Gesellschaft zu verstehen.

Die Ethnologie kann Antworten auf Fragen unseres Alltags geben. Wir haben das Fachwissen, um echte Probleme aus den verschiedensten Bereichen aufzudecken. Wir liefern nicht unbedingt Lösungen, aber wir können auf hartnäckige, überzeugende und oft kritische Weise eine ganze Reihe von Phänomenen hinterfragen.

Doch dieser etwas unbequeme Blick schreckt die Politik und die Verwaltung oft davon ab, mit den Ethnologen zusammenzuarbeiten. Tatsache ist, dass die heutige Gesellschaft Mühe hat, sich in Frage zu stellen. Man hat sogar den Willen verloren, über eine Idee zu debattieren. In der Schweiz wird eine Kritik oft als persönlicher Angriff verstanden.

Was mich in diesem Beruf am meisten fasziniert, ist die Freiheit, den Leuten sagen zu können, dass wir die Wahrheit keineswegs gepachtet haben. Diese gezielte kleine Irritation fordert jeden auf, anders zu denken und mehr Grosszügigkeit und Toleranz gegenüber den Andern unter Beweis zu stellen.

swissinfo: Genf wird vom Rest der Schweiz oft als exotisch wahrgenommen. Welches ist Ihr Blick auf die Stadt, in der Sie seit mehr als einem Jahr verkehren?

J. H.: Was mich am meisten verblüfft, ist die Anziehungskraft, die Genf auf die Leute ausübt. Alle haben Lust nach Genf zu kommen. Meine Kollegen, die ich kaum nach Neuenburg einladen konnte, rufen mich jetzt an, um zu fragen, ob sie nicht schnell vorbeikommen könnten.

Genf ist eine sehr internationale, gleichzeitig aber auch eine sehr provinzielle Stadt. Das Ethnographie-Museum muss sich in diesem Spannungsfeld, ja in dieser Widersprüchlichkeit positionieren. Das Museum und seine Sammlungen sind auf internationaler Ebene bekannt, doch lokal eher schlecht verankert.

Man muss sich auch an die Genfer Politik gewöhnen, die viel theatralischer daherkommt als beispielsweise in Neuenburg. Man setzt sich in Szene und führt lauthals wortreiche Debatten. Die Politiker wollen Eindruck schinden, kämpfen um ihre Position oder inszenieren den spektakulären Auftritt.

Genf ist auch eine Geschäftsstadt und eine Stadt der internationalen Beziehungen. Deshalb wird sie vom Rest der Schweiz oft als etwas hochnäsig empfunden.

swissinfo: Sie werden bald einen Architekturwettbewerb für die Vergrösserung des Museums ausschreiben…

J.H.: Zur Zeit leidet das Museum – eine ehemalige Schule – unter schlechten strukturellen Bedingungen. Vordringlich ist deshalb ein Ausbau. Die Situation ist paradox: Das Museum besitzt eine hervorragende ethnographische Sammlung (100’000 Objekte), davon kann jedoch nur ein ganz kleiner Teil gezeigt werden.

Dieser ethnographische Schatz, hauptsächlich von Genfern zusammengetragen, muss fürs Publikum wieder zugänglich gemacht werden. Dieses Juwel verdient eine würdige Schatulle!

swissinfo: Können Sie sich vorstellen, für die Realisierung dieses Vorhabens mit andern Institutionen zusammenzuarbeiten?

J.H.: Seit meiner Ankunft habe ich ein Ziel: Im Quartier mit der berühmten “Rue des Bains”, wo bereits zahlreiche Galerien und ein Museum für zeitgenössische Kunst angesiedelt sind, muss das Museum besser integriert werden.

All diese Galerien sind übrigens in einem Verein zusammengeschlossen, der das Museum als privilegiertes Mitglied akzeptiert hat. Wir nehmen also an den gemeinsamen, vom Verein organisierten Anlässen und Vernissagen teil.

Wir müssen auf jeden Fall zusammenarbeiten und uns überlegen, wie wir unsere Kräfte bündeln können. Die zeitgenössische Kunst – der Blick der Künstler auf gewisse Objekte und ihre Lesart der Gesellschaft – ist nicht sehr weit von der Ethnographie entfernt. Man hat mich manchmal als zeitgenössischen Künstler beschrieben, mit meinen Ausstellungen in Neuenburg.

Interview swissinfo, Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

Unter gewissen Gesichtspunkten treffen sich die Anthropologie, die Soziologie und die Ethnologie. Das Besondere an der Ethnologie ist die teilnehmende Beobachtung und die qualitative Analyse.

Während ihren Forschungen legen die Ethnologen oft Sammlungen von Objekten an, was bis heute noch ein wichtiges Element ihrer Reflexion darstellt.

Bis vor kurzem war die Ethnologie auf aussereuropäische Gesellschaften und die Soziologie auf die industrialisierte Gesellschaft beschränkt. Heute ist diese Unterteilung nicht mehr angebracht.

Die Ethnologen interessieren sich für hiesige und nicht hiesige Gesellschaften. Sie sind leidenschaftliche Verfechter einer Diversität und unterstützen das Bewusstsein, dass es andere Arten zu denken, zu glauben und zu handeln gibt.

Er wurde 1943 geboren und studierte an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Neuenburg.

1969-1971 war er Konservator am Museum für Völkerkunde und am schweizerischen Museum für Volkskunde Basel (Abteilung Europa).

1973-1980 arbeitete er als Oberassistent am Institut für Ethnologie der Universität Neuenburg.

Ab 1980 war er Konservator des Ethnographie-Museums Neuenburg. Zwischen 1981 und 2005 organisierte er 25 grosse zeitgenössische Ausstellungen.

Heute ist er Direktor des Ethnographie-Museums Genf und gibt einen Kurs in Ethnomuseographie am Institut für Ethnologie der Universität Neuenburg.

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