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“Die Lehrer können stolz auf diese Leistungen sein!”

Schwarz auf weiss: Die Pisa-Studie 2009 attestiert Schweizer Schülern und Schulen sehr gute Leistungen. Keystone

Auch die Bildungspolitiker und Lehrpersonen hätten ihre Lektion aus dem Pisa-Schock von 2000 gelernt. Dieses Fazit zieht Jürgen Oelkers, Pädagogikprofessor an der Universität Zürich, zum insgesamt guten Abschneiden der Schweizer Schüler im jüngsten Pisa-Test.

Die neueste Pisa-Untersuchung 2009 zeigt es schwarz auf weiss: In Mathematik sind die Schweizer Schüler hervorragend (Platz 8 von 65 Ländern), in den Naturwissenschaften überdurchschnittlich (Rang 15). Und auch im Problemfach Lesen gibt’s mit Rang 13 Aufwärtstendenz.

Die guten Noten der 15-Jährigen widerspiegelten die Stärke des kleinräumigen, hochflexiblen Schulsystems in der Schweiz sagt Oelkers im Gespräch mit swissinfo.ch.

swissinfo.ch: Der Pisa-Schock von 2000 ist überwunden. Haben auch die Schweizer Bildungspolitiker und Lehrerinnen/Lehrer ihre Lektion gelernt?

Jürgen Oelkers: Ja. Der Trend zeigt aufwärts. In Mathematik waren wir schon immer gut, in den Naturwissenschaften geht’s aufwärts, beim Lesen geht’s langsamer voran als wir dachten. Aber die Lektion ist gelernt.

swissinfo.ch: Haben die Lehrer ihre Pisa-Lektion gelernt, indem sie die Schüler auf die Tests trainiert haben?

J.O.: An ein „Teaching the Test“ glaube ich nicht, der Test ist ja nicht vorhersehbar, er erfolgt nach zufälliger Wahl. Man hat aber die Schwachstellen erkannt und beispielsweise in den letzten zehn Jahren sehr intensiv Leseförderung betrieben.

swissinfo.ch: In Medien war etwa zu lesen, “Anteil leseschwacher Schüler immer noch doppelt so hoch wie in Finnland”. Werden da nicht Äpfel mit Birnen verglichen?

J.O.: Der Test ist überall derselbe, er ist also gegenüber solchen Unterschieden nicht sensibel. Auch Finnland hat Probleme, etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Diese tritt aber erst auf der zweiten Sekundarstufe auf, also nach dem Pisa-Test. Korea kennt ein reines Pauker-System, und in Japan müssen die Kinder doppelt zur Schule: Erst in die normale Schule und danach in die Jukus, die Pauk-Anstalten am späten Nachmittag.

Mit unseren Eltern und Kindern können wir nicht zu diesen Ländern aufschliessen, weil die Schulkultur eine völlig andere ist.

swissinfo.ch: Inwiefern bringen die Pisa-Umfragen die Schweizer Schulsysteme weiter?

J.O.: Die Tests sind interessant, weil sie sich auf bestimmte Aufgaben und Aufgabentypen beziehen. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre geht dahin, dass auch die Lehrmittel, also der konkrete Unterricht, von solchen Aufgaben profitieren.

swissinfo.ch: Deutet der Spitzenplatz bei Mathematik und die gute Rangierung bei den Naturwissenschaften darauf hin, dass hier fachliche Übergewichte entstehen?

J.O.: Kaum. Die Volksschule ist ganzheitlich, andere Fächer leiden nicht darunter. Wichtig für das Ergebnis ist die Stundendotation: Schüler haben relativ viel Zeit zur Verfügung und beginnen früh mit Rechnen. Nebst den grösseren Ressourcen ist die Qualität der Lehrer ein weiterer Erfolgsfaktor.

swissinfo.ch: Es fällt auf, dass Knaben immer noch viel lesefauler sind als Mädchen. Braucht es spezifische Leseprogramme für Knaben?

J.O.: Nein, aber frühe Förderung. ‘Je früher desto besser’ ist das Erfolgsgeheimnis gerade auch von Finnland. Dort verfügen die Kindergärten über ein ausgebautes Frühförderungssystem, in dem die Kleinen gezielt gefördert werden.

Dort gibt es auch nur geringe Probleme mit jungen Menschen aus anderen Sprachräumen, weil nur finnisch gesprochen wird.

swissinfo.ch: Die SVP, die das Feld der Schulpolitik stark bewirtschaftet, spricht von Lernrückschritten und setzt auf einen eigenen Lehrplan mit Pauker-Pädagogik. Kommt die rechtskonservative Partei jetzt durch die erfreulichen Erfolge der Schweizer Schüler in Beweisnotstand?

J.O.: Ja, das ist ein Schlag ins Gesicht, denn die Geschichte mit der ‘Kuschelpädagogik’ stimmt empirisch nicht. Die SVP sprach von Leistungsabfällen in der Volksschule in den letzen 20 Jahren. Aus wissenschaftlicher Sicht zeigt gerade das jüngste Pisa-Ergebnis im Fach Mathematik, dass es keinen Leistungsabfall gibt.

Die Leistungen der Schüler haben sich auch dank der Messmethoden verbessert, die seit zehn Jahren vermehrt an Schweizer Schulen eingesetzt werden.

Die Konstruktion, wonach die 1968er-Generation Schuld  sein soll sowie die Forderung nach einer Rückkehr zur Schule von vor 50 Jahren sind blosse Parolen, die nicht verfangen und nichts darüber aussagen, was in den Schulen passiert. Das alles ist jenseits jeder erkennbaren Realität und so  einfach Wahlkampf. Wer diese Parolen für Wirklichkeiten nimmt, ist naiv oder spricht  eine ähnliche Sprache.

Tatsächlich können die Lehrer einfach stolz sein auf diese Leistungen sowie die Methoden, die sie zur Verfügung haben. Es ist viel schwieriger, ein hohes Leistungsniveau zu halten, als von unten her aufzuholen. Das bestätigen alle Fussballprofis. Ich bin sicher, dass die SVP diese Kampagne nicht wird durchziehen können.

swissinfo.ch: Können sich die Schweizer Schüler international noch weiter verbessern?

J.O.: Ja, wenn die Struktur so bleibt. Unser kleinformatiges Gemeindesystem ist hochflexibel und sehr anpassungsfähig. Das sind Bedingungen dafür, mit ganz neuen Schülergenerationen umgehen zu können.

Zentralismus konnte ich beispielsweise in Japan studieren, wo ich mich während eines halben Jahres aufhielt. Im Bildungsministerium in Tokio  arbeiten 90’000 Menschen. Hat das etwas mit Effizienz und örtlicher Anpassungsfähigkeit zu tun? Gar nichts, denn die Folge der grossen Zahl ist grosser Leerlauf.

swissinfo.ch: Der Pisa-Binnenvergleich unter den Kantonen folgt erst in rund einem Jahr. Haben diese Resultate für Sie einen höheren Stellenwert als der Ländervergleich?

J.O.: Für die Entwicklung des Schweizer Schulwesens sind sie aussagekräftiger. Man kann etwa sehen, wie unterschiedlich der Einsatz der Ressourcen ist. Deshalb müssen auch Binnenvergleiche vorsichtig beurteilt werden.

Zählt man die Stunden, welche die Kantone in die Volksschule investieren, geht die Schuldauer aus Kostengründen um ein oder zwei Jahre auseinander. Hier sind in den nächsten 10 bis 15 Jahren Anpassungen nötig, damit die Spiesse gleich lang werden.

Am Pisa-Test 2009 haben sich 65 Länder beteiligt, davon 34 Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Zu den Tests traten im April und Mai 2009 rund 470’000 Jugendliche an.

In der Schweiz machten 20 000 Schüler mit.

Die Pisa-Studien der OECD sind internationale Schulleistungs-Untersuchungen, die seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus durchgeführt werden.

Beteiligt sind die meisten Mitgliedstaaten der OECD und eine zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten.

Die Untersuchungen haben zum Ziel, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-Jähriger zu messen.

Pisa steht in den beiden Amtssprachen der OECD für eine unterschiedliche Abkürzung: Im Englischen für Programme for International Student Assessment (Programm zur internationalen Schülerbewertung) und Französischen für Programme international pour le suivi des acquis des élèves (Internationales Programm zur Mitverfolgung des von Schülern Erreichten.)

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