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“Schweizer Kino muss auf Vielfalt setzen”

"Nel giardino dei suoni" von Nicola Bellucci ist der diesjährige Gewinner des Prix de Soleure. solothurnerfilmtage.ch

Die 45. Solothurner Filmtage sind am Donnerstag mit der Preisverleihung zu Ende gegangen. Mehr als 300 Filme wurden gezeigt, also rund die Hälfte der nationalen Filmproduktion. Micha Schiwow, Direktor des Schweizerischen Filmzentrums, zieht Bilanz.

Er habe während den Filmtagen in Solothurn mehr Zeit in Sitzungssälen verbracht als im Kino, räumt Swiss-Films-Direktor Micha Schiwow ein. Aber das Klima in der nationalen Filmbranche habe sich in letzter Zeit etwas entspannt, trotz oder dank zahlreicher Sitzungen.

Die sogenannten “Lokomotiven” unter den Schweizer Filmen, die Nicolas Bideau, alias “Monsieur Cinéma” beim Bundesamt für Kultur (BAK), so eindringlich verlangt habe, seien in den Kinosälen relativ unbeachtet geblieben. Aber deren abgelassener Dampf habe inzwischen auch aufgehört, die Köpfe in der Branche zu erhitzen.

Jedenfalls könne das Schweizer Kino nur dazu gewinnen, wenn es zu einer Politik der Vielfalt zurückfinde, sagt Schiwow.

swissinfo.ch: Was halten Sie vom jüngsten Schweizer Filmjahrgang?

Micha Schiwow: Der Eröffnungsfilm ‘Zwerge sprengen’ hat mir gefallen. Auch habe ich schöne Dok-Streifen gesehen. “Unser Garten Eden” beschreibt die Schweiz über seine am Stadtrand gelegenen Arbeitergärten.

Die Dokumentarfilme machen wirklich die Stärke unseres Filmschaffens aus. “Sound of Insects” ist mir wegen der ungewohnten cinematografischen Ausdrucksweise aufgefallen. Unter den Spielfilmen, hat micht “Coeur animal” von Séverine Cornamusaz positiv überrascht.

swissinfo.ch: Um mehr Glamour zu schaffen, hat das BAK Schweizer “Oscars” ins Leben gerufen. Sie sollen im März in Luzern verleiht werden. Wie in Hollywood kümmert sich eine Akademie um die Nominationen, die in Solothurn bekannt gegeben werden. Wie beurteilen Sie die Auswahl in diesem Jahr?

M.S.: Ich war positiv überrascht. Die Akademie setzt sich aus 170 Mitgliedern zusammen. Ich hatte einige Bedenken vor dem Entscheid. Aber jetzt muss ich sagen, dass die Selektion differenziert gewesen ist. Die Mitglieder haben sich die Mühe genommen, die Filme anzuschauen.

Und nominiert wurden Filme aus allen Sprachregionen. “Sinestesia” von Erik Bernasconi zum Beispiel kam unerwartet. Das ist für das Schweizer Kino ein gutes Zeichen.

swissinfo.ch: Welche Filme haben Potenzial fürs Ausland?

M.S.: Vor allem die Dok-Filme. Sie sind es auch, die sich in den grossen Filmfestivalen positionieren. “Sound of Insects” wird sich dort sicher einen Weg bahnen, “Space tourists” auch. Die Qualität der Dok-Filme bleibt seit Jahren auf hohem Niveau.

Beim Spielfilm hingegen gibt es dürre und fette Jahre. “Giulias Verschwinden” ist ein guter Beginn, doch weiss ich nicht, ob wirklich grosse Filmfestivals daran interessiert sind.

Seit Mitte 2009 ist der Schweizer Film im Ausland erneut gut präsent. Doch in der ersten Hälfte 2009 brillierte er durch Abwesenheit, sowohl in Berlin als auch in Cannes.

Nach Locarno gab es für Schweizer Streifen eine gute Präsenz in Montréal, mit “Pepperminta” und “Hugo in Afrika” in Venedig. Das setzt sich zur Zeit fort, in Sundance, Rotterdam und Berlin, wo vier Filme gezeigt werden.

swissinfo.ch: Der Solothurner Filmtage-Direktor Ivo Kummer war gegenüber dem Bundesamt für Kultur und seiner “Politik der Lokomotiven” immer kritisch eingestellt. Und Sie?

M.S.: Es war ein Fehler, von ‘Lokomotiven’ zu sprechen, genau so wie es ein Fehler war, von populären und von Qualitätsfilmen zu sprechen. Das hat in einer Weise vorgespurt, die nicht gut war.

Das BAK sollte lieber auf Vielfalt setzen, als sich auf fünf oder sechs Filme zu konzentrieren. Für Erfolg gibt es kein Rezept – weder für Amerikaner noch für Schweizer. Manchmal laufen kleine Filme sehr gut, während solche mit grossem Budget nicht vorwärts kommen.

Auch auf Kurzfilme und Nachwuchsförderung müsste man vermehrt zielen. “Auf der Strecke” zeigt, dass man hier gut vorwärts kommen kann, “Coeur animal” ebenfalls – wenn doch nur zehn solche Spielfilme pro Jahr gemacht werden könnten!

swissinfo.ch: Üblicherweise reagiert die Filmbranche recht polemisch auf Kulturpolitik. Nun ist ein neuer Bundesrat Kulturminister geworden, und eine Entspannung scheint sich abzuzeichnen. Ist sie von Dauer?

M.S.: Die Feuer, welche die Gemüter erhitzen, sind nicht völlig gelöscht. In Solothurn haben die Vereinigungen der Filmproduzenten angekündigt, sie würden beim Bundesrat gegen das BAK klagen.

Man muss sich in einem kleinen Land wie der Schweiz zusammentun, wenn man mehr Geld und mehr Unterstützung erhalten will. Jahrelange Zänkereien bringen nichts, und die Politiker denken heute, die Filmbranche könne nur polemisieren.

Ich wünschte mir, dass alle aus diesen Streitereien herausfinden. Wenn Polemiken jedoch wirklich nötig sind, dann sollen sie sich auf die Filme selbst beschränken.

Carole Wälti, Solothurn, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

Zum Ende der Solothurner Filmtage wurden am Donnerstag die Preise verliehen.

Der Spielfilm “Nel giardino dei suoni” (“Im Garten der Klänge”) von Nicola Bellucci gewann den mit 60’000 Franken dotierten Prix de Soleure.

Der Film erzählt die Geschichte des aus dem Kanton Glarus stammenden blinden Musiktherapeuten Wolfgang Fasser.

Den Publikumspreis (20’000 Fr.) holte “Bödälä – Dance the Rhythm”, ein rasanter Tanzfilm von Gitta Gsell.

Die Filmtage, die einen Tag länger dauerten als in früheren Jahren, zählten erstmals mehr über 50’000 Eintritte.

2009 konnten Schweizer Filme laut provisorischen Schätzungen total 550’000 Kinoeintritte verbuchen.

Dies ist wesentlich weniger als im Spitzenjahr 2006, als Schweizer Produktionen 1,6 Millionen Zuschauende anlockten.

Laut Nicolas Bideau, Chef der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK), ist dies darauf zurückzuführen, dass der Kinostart einiger grosser Schweizer Produktionen auf 2010 verschoben wurde.

Die Top 10 der Schweizer Spielfilme wurden mit 135’000 Eintritten dominiert von Christoph Schaubs Komödie “Giulias Verschwinden”, gefolgt von Micha Lewinskys romantischer Komödie “Die Standesbeamtin” (80’000) und “Home” von Ursula Meier (46’000).

In der Kategorie Dokumentarfilm schaffte es “La Forteresse” von Fernand Melgar mit 19’000 Eintritten auf die Top-Position.

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