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“Udine”, der Wassergeist von Zürich

Die gesprayte "Udine" an einer Wand des Deutschen Seminars der Universität Zürich. baudirektion.zh.ch

Harald Nägeli, der "Sprayer" von Zürich, ist wieder da, und Zürich besinnt sich seiner zeitgeschichtlichen Verantwortung gegenüber dem Künstler.

Zürich konserviert “Udine” von Harald Nägeli.

Bevor die Verwitterung und das Klima die letzten Spuren der genialen Strichgesten von Harald Nägeli zerstört haben, lässt sich Zürich mit dem “Spraykünstler” auf ein Zeichen der Versöhnung ein. Die Baudirektion der Stadt will “Udine” von Harald Nägeli restaurieren.

Bei “Udine” handelt es sich um die mythologische Meerfrau, die als Wassergeist menschliche Eigenschaften, aber keine Seele hat. Der Künstler sprayte die Figur in den siebziger Jahren an eine Wand des Deutschen Seminars der Universität Zürich.

Was das offizielle Zürich damals als Vandalismus und als Sachbeschädigung definierte, gilt heute als Kunst und als schützenswertes Kulturgut. Der öffentliche Sinneswandel hatte für den Künstler einen hohen Preis. Harald Nägeli wurde in den siebziger Jahre für seine aktionistischen Bilder aus der Spraydose von der Zürcher Justiz gejagt, gefasst und zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten und zu einer Geldstrafe von 100’000 Franken verurteilt.

Ein historisches Urteil

Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht die Begründung des Urteils gegen Harald Nägeli: “Der Angeklagte hat es verstanden, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.”

Das Urteil gegen Harald Nägeli ist Geschichte, und Zürich hat sich seither an weit gröbere Verletzlichkeiten des Privateigentums gewöhnen müssen. An der nobelsten Einkaufsmeile der Stadt, an der Bahnhofstrasse, machen heute Ganoven Schlagzeilen, die mit gestohlenen Autos exklusive Bijouterien rammen und wertvolle Uhren und teuren Schmuck stehlen. Gemeinsam ist dem Sprayer von damals und den Gangstern von heute, dass beide ihre Werke in weniger als zwei Minuten erledigen.

Wer provoziert, wird wahrgenommen

Harald Nägeli gehörte nie zu jener sprayenden Spontiszene, die mit Aerosol und Anarchie den öffentlichen Raum für ihre Botschaften benützten. Er ist Sohn einer Künstlerin und eines Psychiaters. Nägeli holte sich seinen künstlerischen Schulsack an der Zürcher Kunstgewerbeschule, am Konservatorium und an der Ecole des Beaux Arts in Paris.

Wie kaum ein anderer Schweizer Kunstschaffender hielt sich Harald Nägeli an die Maxime, dass provozieren muss, wer im Kunstbetrieb wahrgenommen werden will. Zwischen 1977 und 1979 schuf Harald Nägeli 400 bis 600 Strichfiguren. Mit der zeichnerischen Form der Spraydose spritzte er seine Werke im Grossraum von Zürich auf kahle Betonwände und Brückenpfeiler.

Harald Nägeli setzte Zeichen mit seinen Aktionsbildern gegen die “geistlose Überbauung” der Stadt. Seine gesprayten Blitzzeichnungen und Strichgesten sind harmlos, wenn man sie mit den Vandalenakten und Sachbeschädigungen vergleicht, die heute Fussballfans und Vertreter von extremen politischen Gruppen in Zürich verüben. Auf diesem Hintergrund wird vielleicht verständlich, warum Zürich jetzt gegenüber Harald Nägeli eine Geste der Rehabilitation versucht.

Ästhetischer Konsens im Wandel

Die Strichgesten, Fabeltiere, Teufelchen, Spiralen, und Phantome verstiessen damals gegen den ästhetischen Konsens einer Stadt, die sich seither in vielen künstlerischen Bereichen geöffnet hat. Die Zeiten ändern sich. Das republikanische Ressentiment der Zwingli-Stadt lässt sich heute kaum noch durch Kunst, Performances oder Theaterskandale provozieren.

Auch Harald Nägeli hat sich bewegt. Nach dessen Freilassung aus dem Gefängnis liess er sich in Düsseldorf nieder, griff auch dort zur Spraydose und spritzte in verschiedenen Städten grosse Zyklen in die urbane Landschaft. Noch heute ist der “Kölner Totentanz” bekannt.

Vom Spray zur Urwolke

In der Schweiz geächtet, betätigte sich Nägeli während zwei Jahrzehnten als Professor für Kunst an deutschen Universitäten. Sein Radierwerk hat Nägeli der Graphischen Sammlung der Universität Thübingen vermacht.

Er führt seine zeichnerische Utopie weiter, immer auf der Spur, wie er Bewegung erzeugen und darstellen kann. Als sein Lebenswerk bezeichnet Nägeli eine endlose Federzeichnung, eine Urwolke, die aus Millionen winziger Striche und Punkte besteht.

Harald Nägeli ist heute wieder vermehrt in Zürich zu sehen. Er misst die Proportionen, die Bewegungen, das neue Gleichgewicht der Stadt. Der Kick, mit der Spraydose ertappt zu werden, ist verflogen. Die Ästhetik des Risikos im nächtlich erstorbenen Zürich zu sprayen, hat sich für Nägeli scheinbar verzogen.

Freundliche aber distanzierte Beziehung

Der Faden zwischen Harald Nägeli und der Stadt Zürich bleibt dünn. Die gesprayte “Udine” an einer Wand des Deutschen Seminars der Universität Zürich wird nach ihrer Restaurierung ein diskretes Dasein fristen. Zwei weitere noch erhaltene Werke von Nägeli befinden sich in einer Tiefgarage der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).

Zürich tut sich bis heute mit neuen Projekten von Harald Nägeli schwer. Sein Vorschlag, im Turmaufgang des Grossmünsters einen Totentanz hinauf bis zur Spitze zu sprayen, ist bisher auf das Schweigen der Zürcher Kirchenfürsten gestossen.

swissinfo, Erwin Dettling, Zürich

Der 1939 geborene Harald Nägeli studierte in Zürich und Paris Kunst und Musik. Er machte zunächst Collagen und Zeichnungen.

1977 begann er in Zürich auf Betonflächen Graffitis zu sprayen. Er wurde als der “Sprayer von Zürich” bekannt. Bürger setzten eine Belohnung auf den Sprayer aus. Nach seiner ersten Festnahme 1979 lebte Nägeli auf der Flucht vor Strafverfolgung in Deutschland und Italien.

Seine Sprayaktionen in Berlin, Köln, Düsseldorf und Frankfurt entfachten eine öffentliche Debatte. Zahlreiche Künstler und Politiker (Joseph Beuys, Klaus Staeck, Adolf Muschg und Willy Brandt) stellten sich hinter ihn. Nach seiner Haftstrafe wendete sich Nägeli wieder vermehrt dem Zeichnen zu.

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