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Aus der geordneten Schweiz ins chaotische Nepal

Die reiselustige Neo-Schweizerin Billi Bierling führt ein Leben zwischen den Hauptstädten der Schweiz und Nepals. Die 50-jährige Alpinistin fühlt sich in beiden Welten daheim.

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swissinfo.ch: Sie wurden im Ausland geboren, sind aber seit diesem Jahr Schweizerin. Warum?

Billi Bierling: Ich lebte seit 2001 in der Schweiz, und auch wenn ich meine Heimat Bayern liebe, war es mir recht wichtig, Schweizerin zu werden. Seit 2006 arbeite ich als Kommunikationsexpertin für das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH)Externer Link. Dabei vertrete ich die Schweiz in verschiedensten Ländern, und das fühlte sich als Deutsche immer etwas komisch an. Ich musste auch immer viel erklären!

Zudem lebe und arbeite ich auch in der Schweiz und zahle dort meine Steuern. Als ich mit Niederlassungsbewilligung C in der Schweiz lebte, hatte ich zwar viele Rechte, doch ich durfte nicht über Dinge abstimmen, die auch mich betreffen. Jetzt kann ich das tun und die direkte Demokratie der Schweiz voll geniessen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland und dessen Politik, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

swissinfo.ch: Sie haben während 17 Jahren in der Schweiz gelebt. Welche Beziehung haben Sie zu dem Land?

B.B.: Die Schweiz hat einen grossen Einfluss auf mein Leben. Ich habe hier das Journalismus-Handwerk gelernt, durfte wundervolle Freunde fürs Leben kennenlernen, und ich habe gelernt, wie man eine professionelle Kommunikationsexpertin wird.

Doch es war nicht alles rosig: Ich hatte auch traumatische Erlebnisse, wie eine Langzeitverletzung, die ich erlitt, als ich mir den Oberschenkelhals brach, nachdem ich mir beim Laufen eine Stressfraktur zugezogen hatte. Diese Verletzung setzte mich für mindestens zwei Jahre ausser Gefecht. Das war sehr hart für mich, denn ich bin süchtig nach Sport. Doch ein wundervoller Arzt, das grossartige Schweizer Gesundheitssystem und meine wunderbaren Freunde halfen mir, das zu überstehen.

Und 2006 starb mein Vater an einem Herzinfarkt, als wir gemeinsam am Ufer der Aare in Bern beim Joggen waren. Doch alles in allem hat die Schweiz mein Leben sicher bereichert.

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swissinfo.ch: Wann begannen Sie sich als Schweizerin zu fühlen?

B.B.: Ich denke, tief in meinem Herzen will ich immer Bayerin bleiben. Doch Bayern und die Schweiz sind beides Alpenregionen, und ich habe mich nie viel anders als die Schweizer eingeschätzt.

Ich fühlte mich den Schweizern immer näher als etwa Menschen aus Hamburg in Norddeutschland. Und als Alpinistin liebe ich hohe Gipfel, davon gibt es in der Schweiz ja jede Menge!

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swissinfo.ch: Wie kamen Sie zu Ihrer Arbeit beim SKH?

B.B.: Als ich noch für swissinfo.ch arbeitete, interviewte ich den damaligen Leiter der Humanitären Hilfe, Toni Frisch. Nach dem Interview fragte ich ihn, ob journalistische Kenntnisse auch in der humanitären Welt nötig sind. Er war sehr nett und erklärte mir, wie das SKH funktioniert. Ich packte die Chance, bewarb mich und wurde angestellt.

swissinfo.ch: Wo leben Sie gegenwärtig?

B.B.: Seit 14 Jahren komme ich regelmässig nach Nepal, wo ich für die Nonprofit-Organisation Himalayan DatabaseExterner Link arbeite, die 1963 von der unterdessen verstorbenen Miss Elizabeth Hawley gegründet worden war.

Während der Expeditions-Saison im Frühling und Sommer lebe ich in KathmanduExterner Link, wo ich Bergsteiger über ihre Expeditionen befrage. Die Details dieser Expeditionen füttere ich dann in die Himalayan Database, die eine sehr wichtige Quelle für Bergsteiger, Journalisten, Forscher und alle ist, die sich für den nepalesischen Himalaya interessieren.

Nachdem ich diesen Job während fünf Jahren gemacht hatte, wollte ich wissen, wie es ist, diese Berge zu besteigen. Also bestieg ich 2009 den Mount Everest und vier weitere der 14 Berge, die über 8000 Meter hoch sind: Lhotse, Makalu, Cho Oyu und Manaslu.

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swissinfo.ch: Was ist in Nepal attraktiver als in der Schweiz?

B.B.: Auch wenn ich die Ordentlichkeit und Sauberkeit in der Schweiz liebe, schätze ich auch das absolute Chaos in Nepal und die Tatsache, dass hier alles möglich ist. Ob man dringend einen Zahnarzt braucht oder etwas reparieren lassen muss – es wird erledigt und kostet nicht viel. Ich habe kaputte Schuhe und zerschlissene Rucksäcke von meinen Schweizer Freunden nach Nepal gebracht, weil unsere Handwerker sich oft weigern, alte Dinge zu reparieren.

Die Nepalesen sind innovativ und anpassungsfähig. Sie können stundenlang ohne Elektrizität sein, sich in der schlechten Luft Kathmandus aufhalten und haben kein Problem damit, dass einige der Hauptstrassen in einem schlechteren Zustand sind als die schlimmsten Feldwege in der Schweiz.

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​​​​​​​swissinfo.ch: Wie denken Sie über die Schweiz, wenn Sie in der Ferne sind?

B.B.: Die Schweizer haben einen sehr guten Ruf, wo auch immer ich gewesen bin, besonders wenn ich mich auf einer Mission des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe befinde. Die Schweizer werden wegen der hohen Qualität ihrer Projekte und auch für ihre allgemeine Neutralität sehr geschätzt.

Auf meiner letzten Reise von Kathmandu nach Afghanistan, wo ich einen Workshop für das SKH unterstützte, reiste ich mit meinem brandneuen Schweizer Pass. Und ich muss zugeben, dass ich mich ein bisschen stolz fühlte!

swissinfo.ch: Fühlen Sie sich manchmal fremd oder sind Sie gut integriert?

B.B.: Ich denke, eine Europäerin kann sich nie wirklich in Asien integrieren, und als blonde Frau kann man sich optisch auch nicht wirklich einfügen. Ich habe aber sehr gute nepalesische Freunde, und so sehr ich mich in der Schweiz zuhause fühle, fühle ich mich auch hier daheim.

Meine Hauptsprache in Nepal ist Englisch, aber ich spreche auch Nepali. Und auch wenn ich es nicht ganz fliessend spreche, so öffnet das doch die Türen und Herzen der Menschen.

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swissinfo.ch: Welche kulturellen Unterschiede bereiten Ihnen am meisten Mühe?

B.B.: Das scharfe Essen! Auch nach all diesen Jahren habe ich mich nicht an das scharfe Essen gewöhnt und liebe es, mir daheim mein Gemüse auf europäische Art zu kochen, ohne Chili!

Gewöhnungsbedürftig sind auch der Mangel an persönlichem Freiraum und die Tatsache, dass sich Nepalesen kaum je entschuldigen. Man kann etwa auf dem Fahrrad von einem Motorrad umgefahren werden, und der Motorradfahrer schaut nur kurz zurück und fährt dann weiter.

Ich wünschte mir manchmal auch, die Nepalesen würden etwas mehr Eigeninitiative zeigen und für ihre Rechte kämpfen. Etwa bei den bereits erwähnten schlechten Strassen, wo ich sie dafür bewundere, dass sie so gelassen damit umgehen können. Da wäre es sicher einmal gut, wenn sie auf den Tisch hauen und mehr von der Regierung verlangen würden.

swissinfo.ch: Was freut Sie in Ihrem Alltag in der Fremde am meisten?

B.B.: Meine absolute Freiheit! Ich finde es toll, dass ich meinen Tag selber organisieren kann. Ich muss nicht in ein Büro gehen, wie ich das im Winter mache, wenn ich in Bern im SKH-Hauptquartier arbeite.

Ich liebe meine Arbeit dort, aber dass ich nicht die Freiheit habe, meine Arbeitsstunden selber zu bestimmen, ist für mich hart. Das heisst aber nicht, dass ich nicht arbeite, wenn ich in Kathmandu bin. Tatsächlich arbeite ich dort länger, als wenn ich im Büro sitze.

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swissinfo.ch: Nehmen Sie an Schweizer Wahlen und Abstimmungen teil?

B.B.: Seit ich Schweizerin geworden bin, gab es zwei Abstimmungen. Für die erste reichte es leider nicht, mir die Abstimmungsunterlagen fristgerecht per Post zuzustellen. Das machte mich echt wütend, weil ich so die erste Möglichkeit verpasste, bei diesem grossartigen System mitzumachen.

Bei der zweiten Abstimmung, wo es über die Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren ging, war ich in Bern und sehr froh, dass ich meine Stimme abgeben konnte.

swissinfo.ch: Was vermissen Sie von der Schweiz am meisten?

B.B.: Die saubere Luft und “Nussstängeli”! Ich esse sie normalerweise am Morgen mit meinem Mandelmilch-Kaffee, und ich stelle immer sicher, dass ich genügend davon mitnehme, um einige Monate davon zehren zu können. Ich habe auch den Schweizer Käse vermisst, aber weil ich mich seit drei Jahren vegan ernähre, ist das kein Thema mehr.

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sdf

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