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Die Schweizer Juden reagierten typisch schweizerisch

Zionistenkongress historische Aufnahme
Vor 120 Jahren trafen sich Juden aus vielen Ländern in Basel zum ersten Zionistenkongress. Historische Aufnahme

Vor 120 Jahren fand in Basel der erste Zionistenkongress statt, er legte den Grundstein für den Staat Israel. Unser Gastautor erklärt, welche Ereignisse die Sicht auf den Zionismus und Israel bis heute geprägt haben.

Theodor Herzli
Theodor Herzl Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund

„In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig, wird es Jeder einsehen.“ Theodor Herzl, 1897

Kaum ein anderes Wort wird so oft falsch verstanden oder verwendet wie Zionismus. Oft wird das Wort  „Zionist“ fälschlicherweise  als Synonym für „Jude“ oder für „Israeli“ verwendet. Verschwörungstheoretiker raunen gerne von einer „zionistischen Weltverschwörung“. Und wenn nun die Schweizer Juden Ende August das 120-jährige Jubiläum des ersten Zionistenkongresses feiern, sind nicht wenige komplett verwirrt: Warum freuen sich die Schweizer Juden über dieses  Jubiläum, wenn sie doch Schweizer Bürger und gar keine Israelis sind? In welchem Verhältnis stehen die Schweizer Juden zu Israel, und was verbindet sie mit dem Zionismus?

Eine Nationalbewegung unter vielen

Die Missverständnisse im Zusammenhang mit der Bedeutung des Wort „Zionismus“ lassen sich leicht aufklären:  Der Zionismus war im späten 19. Jahrhundert eine demokratische Nationalbewegung – eine unter vielen. Nicht mehr und nicht weniger. Im Gegensatz zu anderen Nationalbewegungen gab sich die jüdische  aber einen eigenen Namen, nämlich Zionismus.

Das Ziel des Zionismus war, eine nationale Heimstätte für Juden zu schaffen. Die Hoffnung, dass die Werte der Aufklärung und  mehr Wissen über das Judentum den Antisemitismus verschwinden lassen würde, hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts nämlich  zerschlagen.  Vielmehr wurden damals neuartige antijüdische Vorstellungen immer populärer: Juden könnten nie Teil der europäischen Gesellschaften werden, weil sie eine „minderwertige Rasse“ seien, behauptetet pseudowissenschaftlich argumentierenden Vordenker dieses „modernen“ Antisemitismus. In Frankreich fand der Antisemitismus seinen Höhepunkt in der so genannten Dreyfus-Affäre: Der französischen Hauptmann Alfred DreyfusExterner Link wurde fälschlicherweise des Landesverrat bezichtigt. Das eigentliche Motiv der Ankläger war Antisemitismus.  In Osteuropa wüteten immer wieder Pogrome gegen Juden. All dies bestärkte den zionistischen Vordenker Theodor Herzl und seine Mitstreiter in der Überzeugung, dass die  Juden trotz aller Bemühungen um Integration in den europäischen Gesellschaften keine Heimat mehr hätten und dass sie daher einen eigenen „Judenstaat“ aufbauen müssen.

Einladungskarte
Teilnehmerkarte für Herrn stud. med. Hirschkopf, Basel, 1897. Jüdisches Museum der Schweiz, Basel

Nicht dafür, nicht dagegen: Man war neutral

Doch als Herzl  vor genau 120 Jahren in Basel den  ersten Zionistenkongress initiierte, reagierten die Schweizer Juden zurückhaltend, oder anders ausgedrückt  typisch schweizerisch: Man war nicht für den Zionismus. Man war aber auch nicht dagegen. Man war neutral. Am zweiten Zionistenkongress, der ein Jahr darauf in Basel stattfand, beklagte sich ein französischer Zionist gar über das „Desinteresse der Schweizer Juden“ am Thema.

„Wir wollen gute Juden sein, und gute Eidgenossen, keinesfalls wünschen wir ein anderes Vaterland.“

Es gibt mindestens zwei Erklärungen, warum die Schweizer Juden anfangs nicht so richtig begeistert waren von den Ideen des Zionismus: Einerseits schien Osteuropa mit den Pogromen weit weg, und auch wenn die Schweiz nicht frei von Antisemitismus war, ging es den hiesigen Juden, die grösstenteils schon seit Jahrhunderten hier ansässig waren, relativ gut. Sie waren gesetzlich seit 1866 gleichgestellt und gut integriert.  Andererseits  hatte man Angst vor dem Vorwurf der doppelten Loyalität: „Wir wollen gute Juden sein, und gute Eidgenossen“, beteuerte ein jüdischer Basler Arzt nach dem ersten Zionistenkongress im Israelitischen Wochenblatt, „keinesfalls wünschen wir ein anderes Vaterland“.  

Nach der Shoa kam die Wende

Mit dem Erstarken antisemitischer Bewegungen in der Schweiz  wie etwa der Nationalen Front gewann  der Zionismus in den 1930er-Jahren auch unter den hiesigen Juden mehr Anhänger. Zur gleichen Zeit flüchteten viele deutsche Juden in die Schweiz – und sie brachten ihre Überzeugung mit, dass die Juden einen eigenen Staat brauchen. Doch erst die Verbrechen der Nazis brachten den zionistischen Ideen einen wirklich starken politischen Rückhalt unter den Schweizer Juden: Nach der Shoa zweifelte kein Schweizer Jude mehr am Sinn einer jüdischen Heimstätte.

Im Jahr 1948 wurde mit der Gründung Israels aus der Utopie Realität. Über Nacht veränderte sich die Bedeutung des Worts Zionismus: Während es vor der Gründung darum ging, einen jüdischen Staat zu gründen, ging es nun darum, in einem jüdischen Staat zu leben.

Der Dachverband der Schweizer Juden, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG, erklärte sich von Beginn weg solidarisch mit Israel.  Nur wenige Stunden nach der Proklamation des jüdischen Staates sandte der SIG «unverzüglich ein Glückwunschtelegramm an den jüdischen Nationalrat und versicherte dem jungen Staat seine ungeteilte Solidarität», wie der Jahresbericht des SIG des Jahres 1948 festhält. Doch auch der SIG fürchtete den Vorwurf der doppelten Loyalität, und stellte daher öffentlich klar, dass «ungeachtet aller starken, religiösen, kulturellen und geistigen Bindungen» zu Israel, sich an den «Pflichten und Rechten», an der «Liebe, Treue und Loyalität zur Schweiz » nichts ändere.

Harte Zeiten für das junge Israel

Die Zeit nach der Gründung war hart für den neu gegründeten Staat:  Israel wurde direkt nach der Unabhängigkeitserklärung von den umliegenden Staaten angegriffen. Die Schweizer Juden bezogen Stellung für den jüdischen Staat, der sich gegen die Angriffe der Nachbarn erfolgreich zur Wehr setzen konnte. Weiter verstärkt wurde die Verbundenheit der Schweizer Juden mit Israel während des Sechstagekrieges im Jahr 1967. Die Schweizer Juden bekundeten wie kaum eine andere jüdische Gemeinschaft der Diaspora  einhellig Sympathie für Israel, was sich in Spenden und öffentlichen Sympathiebekundungen zeigte.

ausstellung
Theodor Herzl in der zeitgenössischen Kunst Eine Ausstellung zum 120. Jahrestag des ersten Zionistenkongresses der Botschaft des Staates Israel und des Jüdischen Museums der Schweiz widmet sich Theodors Herzls Erbe und Charisma aus der Perspektive von zeitgenössischen Künstlern. Gleichzeitig reflektiert sie die Rolle von Künstlern, die durch ihre Bilder Menschen zu Ikonen machen. Jüdisches Museum der Schweiz, Basel, 18. August bis 10. September 2017. zvg

Zu dieser Zeit war noch eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung solidarisch mit Israel – was sich aber bald ändern sollte:  Ab den 1970er-Jahren sorgten sich die Schweizer Juden zunehmend um die öffentliche Meinung in der Schweiz zu Israel. Sie sahen sich immer stärker gezwungen, die israelische Politik zu verteidigen und zu erklären, auch wenn sie sie nicht immer voll stützten. Bis zum Libanonkrieg von 1982 gab es in der Schweiz kaum jüdische Stimmen, die sich öffentlich kritisch zu Israel äusserten. 1982 formierte sich in der Schweiz erstmals eine jüdische Gruppe, die sich öffentlich kritisch verlauten liess, und äusserten in der Neuen Zürcher Zeitung ihre «Bestürzung über den Krieg, den Israel in den Libanon getragen hat». Damals schlossen sich diese kritischen Stimmen unter einem Dach zusammen. Auch wenn diese kritische Gruppe die Grundidee des Zionismus, wonach auch Juden einen eigenen Staat haben sollen, befürworteten, begegnete ihnen die Mehrheit der Schweizer Juden mit Argwohn.

In Bern brennen israelische Flaggen

Mit den Friedensgesprächen von Madrid und dem Friedensabkommen von Oslo Anfang der 1990er-Jahre kehrte ein wenig Ruhe in die aufgeheizte Stimmung gegen Israel ein. Doch nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen kam es zur zweiten Intifada – und zu grossen Solidarisierungswellen mit den Palästinensern. Als im April 2002 die israelische Armee gegen militante Palästinenser im Flüchtlingslager von Jenin vorging, rief das auch in der Schweiz heftige Kritik hervor. Am Rand einer Palästinakundgebung gingen in Bern vor dem Bundeshaus israelische Flaggen in Flammen auf, die mit Hakenkreuzen verschmiert waren. Der Hass auf Israel zielt aber auch auf Schweizer Juden. Der SIG wurde mit antisemitischen Zuschriften überhäuft, es kam zu antisemitischen Schmierereien und verbalen Attacken auf der Strasse. Das jüdische Magazin Tachles titelte: «Antisemitismus-Alarm für Europa: Schlimmste Zeit seit dem Weltkrieg». Zuletzt ergoss sich eine antisemitische Welle über Europa während des Gazakrieges im Jahr 2014.

Jonathan Kreutner
Jonathan Kreutner ist Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG, Historiker und Autor des Buches „Die Schweiz und Israel. Auf dem Weg zu einem differenzierten historischen Bewusstsein“ (Chronos). zvg

Auch Juden streiten über Israels Politik

Doch die Schweizer Juden sind nicht für die israelische Politik verantwortlich – schliesslich haben die allermeisten den Schweizer Pass und nicht den israelischen. In der Schweiz stimmen sie ab, nehmen an  Wahlen teil, beteiligen sich an politischen und gesellschaftlichen Diskursen, übernehmen  Verantwortung als Bürger und leisten nicht zuletzt Militärdienst.  Die Meinungen zur aktuellen israelischen Politik gehen weit auseinander, die allermeisten Schweizer Juden sind sich aber einig, dass Juden, die in einem jüdischen Staat leben wollen, die Möglichkeit dazu haben sollen. Der erste Zionistenkongress hat den Grundstein dafür gelegt, dass das heute möglich ist. Deshalb ist das 120-Jubiläum für die Schweizer Juden ein guter Grund zum Feiern.

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