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Ignoranz als Staatsschutz?

Zwei als Spione verkleidete Demonstranten
Zwei als Spione verkleidete Demonstranten während der Proteste gegen den "Fichenstaat" am 3. März 1990 in Bern. Keystone / Karl-Heinz Hug

Vor genau 30 Jahren geriet die Schweiz in eine der schwersten institutionellen und politischen Krisen ihrer Geschichte. Der so genannte "Fichenskandal" explodierte.

Es war der 1. August 1990, der 699. Geburtstag der Eidgenossenschaft. An diesem Tag erhielt Max Frisch ein 13-seitiges Dokument mit einer Aufstellung aller öffentlichen und privaten Ereignisse in seinem Leben, welche von der politischen Polizei erfasst worden waren.

Der Schriftsteller und Dramatiker Frisch (1911-1991), der auch als Anwärter für den Literatur-Nobelpreis gehandelt worden war, hatte kurz zuvor Zugang zu seiner “Staatsschutzfiche” gehabt, welche Hunderte von Spionagehandlungen zusammenfasste, denen er im Laufe der Jahre ausgesetzt war.

Die Erfassung beinhaltete mehr als 40 Jahre Auslandreisen, Reden, Teilnahmen an politischen Kundgebungen und Debatten sowie Meinungsaustausch aller Art. Das gesamte Material war mit einer gewissen Oberflächlichkeit gesammelt und zusammengestellt worden, ohne eine echte Methode, so dass es grösstenteils bedeutungslos und manchmal sogar lächerlich wirkte.

Frisch erkannte sofort, wie gravierend diese Jahrzehnte lange Überwachungstätigkeiten gewesen waren, sah aber auch die Ungeschicktheit des Überwachungsapparats, der ihn von 1948 bis 1990 im Visier behalten hatte. Der Schriftsteller und Architekt reagierte auf ungewöhnliche Weise, indem er beschloss, einige der in diesen Dokumenten enthaltenen Informationen zu kommentieren, zu korrigieren und zu ergänzen.

So entstand unter dem Titel “Ignoranz als Staatsschutz?” sein letztes schriftstellerisches Werk. Es wurde erst 2015, also lange nach seinem Tod, vom Berliner Suhrkamp-Verlag publiziert. Die Basis des Buchs war das Manuskript, das sich im Max Frisch Archiv in der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) befindet. Die Aufzeichnungen erschienen zusammen mit einem Faksimile der Fiche.

Der Ursprung des Skandals: Elisabeth Kopp

Der ganze Überwachungsapparat, der von der Polizei auf die Beine gestellt worden war, passte perfekt zum spannungsreichen Klima in den Jahren des Kalten Krieges. Es ist wohl kein Zufall, dass der Fichenskandal just im Jahr des Berliner Mauerfalls aufflog. Aus Schweizer Sicht bedeutete die Affäre ein Ende der Überwachung von politischen Aktivistinnen und Aktivisten im Land.

Die Angst vor dem Kommunismus kam nicht mehr als Rechtfertigung in Frage, genauso wenig, wie es nötig war, Aktivisten, Gewerkschafter und Politiker auszuspionieren.

Alles hatte 1989 begonnen, als sich Elisabeth Kopp (Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) gezwungen sah, aus der Schweizer Regierung zurückzutreten. Sie war die erste Bundesrätin der Eidgenossenschaft.

Was war passiert? Kopp hatte von ihrem Büro im Bundeshaus ihren Ehemann angerufen und ihm nahegelegt, einen Verwaltungsratsposten in einem Unternehmen niederzulegen, das unter Geldwäscherei-Verdacht stand.

Um Licht in die ganze Angelegenheit zu bringen, wurde eine Parlamentarische UntersuchungskommissionExterner Link (PUK) eingerichtet. Diese deckte dann die ganze Dimension des Überwachungsapparats auf: 900’000 Karteikarten (Fichen), die zu zwei Dritteln ausländischen Bürgern galten, die in der Schweiz wohnten oder zu Besuch waren. Die restlichen Fichen betrafen Schweizer Bürger, Organisationen oder politisch-kulturelle Ereignisse im Land.

PUK-Präsident war damals Moritz Leuenberger, Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP). Dieser ging sogar soweit, zu erklären, dass die wahren Staatsfeinde nicht unter den Personen zu suchen seien, die durch die Polizeifichen erfasst worden seien, sondern bei den Aktivisten der Bundespolizei. Viele Schweizer Medien verglichen damals die Methoden der politischen Polizei in der Schweiz mit der Stasi (Staatssicherheit) in der früheren DDR.

Die Fichenaffäre sorgte in der Schweizer Gesellschaft für ein Klima der Nervosität und des Misstrauens gegenüber den Institutionen, wie es in der Geschichte des modernen Bundesstaates praktisch nie vorgekommen war.

Proteste gegen einen “verluderten Staat”

Die Reaktion von Max Frisch war durchaus repräsentativ für einen Teil der Schweizer Bevölkerung. Nach der Veröffentlichung des PUK-Berichts bildete sich im ganzen Land eine breit abgestützte Protestbewegung.

“Wenn ich von der Schweiz rede, so rede ich nicht von den Landschaften (…), sondern ich meine den Staat, 1848 eine grosse Gründung des FREISINNS, heute unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks ein verluderter Staat (…)”.
Max Frisch

Als erster Schritt wurde ein “Komitee gegen den Schnüffelstaat” gegründet, das eine PublikationExterner Link herausgab und eine Volksinitiative zur Abschaffung der politischen PolizeiExterner Link lancierte. Landesweit fanden Protestaktionen statt, die in einer nationalen Kundgebung am 3. März 1990 in Bern ihren Höhepunkt fanden. Rund 30’000 Menschen protestierten vor dem Bundeshaus “gegen den Schnüffelstaat”.

In den Monaten zuvor hatten Tausende von Bürgerinnen und Bürgern Anträge gestellt, um ihre Ficheneinträge einsehen zu können. Die grosse Zahl der Anträge brachte die Regierung unter Druck, die versprochen hatte, dass die Dossiers allen betroffenen Personen zur Verfügung gestellt würden.

Schon vor dem Verfassen seines letzten Werks hatte sich Frisch höchstpersönlich für die finanzielle Unterstützung des Komitees gegen den Schnüffelstaat eingesetzt. Wegen seines schlechten Gesundheitszustands konnte er am 3. März nicht an der Kundgebung teilnehmen. Doch es wurde eine Rede verlesen, die er selbst geschrieben hatte.

Boykott der 700-Jahr-Feierlichkeiten

Zudem entschied Frisch, genauso wie viele weitere Kulturschaffende und Intellektuelle, nicht an den Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft im Jahr 1991 teilzunehmen.

Am 15. März publizierte Frisch einen Offenen Brief, als Antwort auf die Einladung von Marco Solari, dem Delegierten der 700-Jahr-Feierlichkeiten, in dem er die Einladung zu einer Teilnahme ausschlug und die Schweiz in Folge der “jahrhundertelangen Dominanz des Bürgerblocks” einen “verluderten Staat” nannte.

Das gesellschaftliche Klima im Land blieb in den kommenden Monaten angespannt. Die Bundesinstitutionen versuchten sich in Schadensbegrenzung, indem Regeln und Praktiken zum Schutz des Staats neu erarbeitet wurden.

1997 verabschiedete das Parlament das Bundesgesetz über die Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit. Dieses Gesetz besiegelte das Verbot für Institutionen des Bundes und der Kantone, Informationen über Bürgerinnen und Bürger in Zusammenhang mit ihren politischen Aktivitäten oder in Ausübung ihres Rechts auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu sammeln.

Wohl auch aus diesem Grund lehnte das Schweizer Stimmvolk 1998 die Volksinitiative “S.O.S. – für eine Schweiz ohne Schnüffelpolizei” ab, die im Nachgang des Fichenskandals lanciert worden war. Damit schloss sich ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte des Schweizer Staatsschutzes.

Die Verteidigung des ehemaligen Direktors der Bundespolizei

Der PUK-Bericht hatte gegenüber der politischen Polizei schwere Vorwürfe erhoben und vor allem einen Mangel an Methodik bei der Datensammlung kritisiert. Zudem wurde der Polizei vorgeworfen, sich zu sehr auf linke Aktivistinnen und Aktivisten konzentriert zu haben.

25 Jahre nach dem Ausbruch der Fichenaffäre verteidigte der damalige Chef der Bundespolizei, Peter Huber, in einem Interview mit der Schweizerischen Depeschenagentur (sda) die Arbeit seines Teams. Er erklärte, bei den Fichen habe es sich in erster Linie um ein internes Arbeitsinstrument gehandelt.

Huber erinnerte in diesem Interview auch daran, dass seine Mitarbeitenden angesichts der Erklärungen von Moritz Leuenberger und den Kommentaren in den Medien konsterniert und verbittert gewesen seien.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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