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Harte Debatte über Kosten des Mindestlohns

Der Waadtländer Gurkenproduzent Reitzel rechnet mit Stellenabbau, wenn das Schweizer Stimmvolk sich für einen Mindestlohn von 4000 Franken entscheiden sollte. Keystone

Wäre die Einführung eines Mindestlohns von 22 Franken pro Stunde für die Schweizer Unternehmen und Konsumenten tragbar? Wenige Wochen vor der Abstimmung vom 18. Mai kreuzen Gewerkschaften und Arbeitgeber die Klinge zu dieser Frage.

Der Fall der Firma Reitzel im waadtländischen Aigle illustriert die Debatte, die der Abstimmung über die Einführung eines Mindestlohns in der Schweiz vorausgeht. In einem Artikel, der Mitte März in der Westschweizer Tageszeitung Le Matin  publiziert wurde, sagte der Waadtländer Gurkenproduzent, dass die Annahme der Gewerkschafts-Initiative gravierende Auswirkungen für seinen Betrieb hätte.

“Im Falle eines Ja müssten wir vermutlich einige Produktionen einstellen und Entlassungen durchsetzen. Betroffen wären zuerst die nicht-qualifizierten Arbeitskräfte”, sagte der Patron. Weil er davon ausgeht, dass er auch die Löhne jener Angestellten nach oben anpassen müsste, die bereits mehr als 22 Franken pro Stunde verdienten, rechnet Bernard Poupon mit einer Erhöhung der Lohnsumme von 20% und einer Preiserhöhung seiner Verkäufe von 5%.

Die Linke liess nicht lange mit einer Antwort auf sich warten. Der sozialdemokratische Waadtländer Minister für Gesundheit und Soziales, Pierre-Yves Maillard, hat die Erhöhung der Lohnsumme, welche Reitzel betreffen würde, mit 200’000 Franken beziffert: “Wie können diese 200’000 Franken eine Steigerung der Lohnsumme von 20% verursachen in einem Unternehmen, das einen Umsatz von 120 Millionen Franken erzielt. Da werden wohl die Leser für Gurken gehalten!”

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Setzt das Schweizer Stimmvolk den Mindestlohn durch?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Von den höchsten bis zu den tiefsten Löhnen – die Lohntüte ist in den letzten Jahren in den Vordergrund der politischen Debatten in der Schweiz gerückt. In weniger als eineinhalb Jahren ist es bereits das dritte Mal, dass das Stimmvolk zum obersten Richter in Lohnfragen wird. Die Volksinitiative “Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)”, eingereicht…

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1,6 Milliarden Franken

Die einzige umfassende Studie, die bisher publiziert wurde, kommt aus gewerkschaftlichen Kreisen. Deren Verfasser, Beat Baumann, Ökonom bei der Gewerkschaft UNIA, schätzt, dass die Lohnerhöhung für rund 300’000 betroffene Arbeitnehmer in der Schweiz die Unternehmungen rund 1,6 Milliarden Franken kosten werde. Für die Umsetzung dieser Massnahmen hätten die Unternehmungen Zeit bis 2018.

“Diese Summe entspricht rund 0,5% der gesamten Lohnsumme. Mit dieser geringen Anpassung, die sich auf mehrere Jahre verteilen lässt, ist keine negative Auswirkung auf die Teuerung oder Beschäftigung zu befürchten. Bei den jährlichen Lohnverhandlungen geht es um weitaus grössere Beträge”, sagt Beat Baumann.

Der Ökonom hat die Auswirkungen jeder Branche einzeln unter die Lupe genommen. Im Gastgewerbe zum Beispiel müsste mit einer Preiserhöhung für ein Kaffee crème von heute CHF 4.10 auf 4.20 (+2,2%) gerechnet werden. In diesem Wirtschaftszweig sind rund 46’000 Personen mit niedrigen Löhnen tätig. In den letzten Jahren wurden bereits substanzielle Anpassungen gemacht. Innerhalb von 15 Jahren ist der Minimallohn von CHF 2350.-  auf 3691.- gestiegen, also um 57%, obwohl die Arbeitslosenquote gesunken ist. Für die Gewerkschaften ist dies der Beweis, dass ein Mindestlohn von CHF 4000.- ohne weiteres verkraftbar wäre.

(Ökonomische Betrachtungen zum Mindestlohn wurden auch in der Sendung Echo der Zeit von SRF vom 31.03.2014 angestellt:)

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Die Arbeitgebervereinigungen kommen zu einem ganz anderen Schluss. “Die Erhöhung des Minimallohnes in den letzten 15 Jahren hat die finanzielle Gesundheit zahlreicher Unternehmen geschwächt. Das Gastgewerbe hat 13’000 Stellen verloren, während die Anzahl Teilzeitangestellter seit 1991 um 40% zugenommen hat”, sagt Gilles Meystre, stellvertretender Direktor von GastroWaadt.

Im Fall einer weiteren Lohnerhöhung werden die besonders verletzlichen Restaurateure gezwungen sein, ihre Preise stark zu erhöhen oder ihr Personal vermehrt nur während den intensivsten Stunden des Tages einzusetzen. “Es würde das Ende von zahlreichen Restaurants in Quartieren und Dörfern bedeuten”, warnt Gilles Meystre.

Industrie ist beunruhigt

Auch die Industrie befürchtet das Schlimmste von einer Annahme der Initiative. “Ein Mindestlohn von 22 Franken würde die Kosten des Industriestandorts Schweiz, die bereits sehr hoch sind, zusätzlich steigern und die Konkurrenzfähigkeit schwächen”, sagt Philippe Cordonier vom Arbeitgeberverband der Schweizerischen Maschinenindustrie (Swissmem).

Die Auswirkung eines Mindestlohns, “die von einer Unternehmung zu anderen variiert”, auf die Anzahl betroffener Stellen, lasse sich allerdings weder berechnen noch seriös schätzen”, sagt Cordonier.

“Unternehmungen, die im internationalen Wettbewerb stehen, bezahlen bereits Löhne über 4000 Franken, um qualifizierte Angestellte anzuziehen. Es handelt sich vor allem um prinzipiellen Widerstand”, vermutet Daniel Lampart, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).

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Leben am Existenzminimum

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Zwei Personen erklären, wie sie mit weniger als 4000 Franken pro Monat auskommen.

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Grossverteiler passen sich an

Im Detailhandel verdienen fast 50’000 Personen weniger als 22 Franken pro Stunde. Kleiderhandelsketten wie C&A, H&M oder Zara, der Möbelriese Ikea, der Schuhverkäufer Dosenbach/Ochsner oder Vögele Shoes haben laut Gewerkschaften ausreichende Mittel, ihre Angestellten anständig zu bezahlen, ohne dass die Konsumenten den geringsten Effekt spüren. Lediglich zwei von ihnen haben auf die Fragen von swissinfo.ch geantwortet.

Ikea behauptet, dass das Unternehmen “die Forderungen der Initiative bereits erfüllt”.  H&M kündigt an, einen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde für seine Angestellten ab dem 1. Januar 2015 zu garantieren. “Eine gerechte und auf den Markt ausgerichtete Lohnpolitik ist unabdingbar, um wettbewerbsfähig zu bleiben und die besten Lohnbezüger anzuziehen”, sagt H&M-Sprecherin Ana Bobicanec.

Der Mode-Gigant, der in der Schweiz rund 2000 Personen beschäftigt, folgt damit den Schritten der deutschen Discounter Aldi und Lidl, die kürzlich beschlossen hatten, ihre Lohnbezüger in der Schweiz entsprechend zu bezahlen.

Die Volksinitiative wurde 2012 vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) mit 112’301 gültigen Unterschriften eingereicht. Sie verlangt, dass die Eidgenossenschaft und die Kantone die Löhne in der Schweiz schützen und die Festlegung von orts-, berufs- und branchenüblichen Mindestlöhnen in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) fördern.

Ausserdem verlangt sie die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 22 Franken für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die Regierung und die Mehrheit des Parlaments empfehlen die Initiative zur Ablehnung. Um angenommen zu werden, benötigt sie am 18. Mai eine Volksmehrheit sowie ein Ständemehr (Zustimmung einer Mehrheit der Kantone).            

Landwirtschaft, ein dornenvolles Dossier

Der Durchschnittslohn in der Landwirtschaft liegt derzeit bei CHF 15.- Eine Erhöhung auf CHF 22.- “würde Zusatzkosten von 450 bis 500 Millionen Franken bedeuten”, schätzt Jacques Bourgeois, Direktor des Schweizerischen Bauernverbands (SBV). “Kulturen wie Gemüse-, Früchte-, Tabak- oder Weinbau, die viel Handarbeit verlangen, wären bedroht.”

Differenzierter drückt sich Charles Bolay, Präsident des bäuerlichen Netzwerks Uniterre, aus. “Alle sollen in der Schweiz von ihrer Arbeit leben können. 4000 Franken sind ein Minimum dafür. Aber in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation, ist es nicht möglich, eine Initiative zu unterstützen, die einen Stundenlohn von 22 Franken fordert.”

Für Uniterre bedingt eine bessere Bezahlung der 162’000 Bauern und landwirtschaftlichen Angestellten zuerst die Verteidigung von “gerechten Preisen” für landwirtschaftliche Produkte.

(Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann spricht sich in der SRF-Sendung “10 vor 10” vom 25.02.2014 gegen die Mindestlohninitiative aus.)

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Auf die Frage, ob er sich im Falle eines Ja am 18. Mai eine Ausnahme für die Landwirtschaft vorstellen könnte, sagt SGB-Sekretär Daniel Lampart: “Der Text der Initiative ist klar. Er sieht Ausnahmen für bestimmte Arbeitsverträge vor, die insbesondere eine starke Ausbildungskomponente enthalten, aber nicht für einen spezifische Branche.”

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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