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Ein erster Schritt zur Bekämpfung der Überschuldung

Ein Taschenrechner neben einer Hand
In der Schweiz sollen mehr als 500'000 Menschen überschuldet sein. Genaue Statistiken fehlen. Christof Schuerpf/Keystone

Die Schweiz ist eines der wenigen Länder in Europa, die für Menschen in grossen finanziellen Schwierigkeiten keinen Schuldenerlass vorsehen. Das Parlament fordert eine Anpassung des Gesetzes.

Hoch verschuldete Personen in der Schweiz haben Mühe, aus den Schulden herauszukommen. Die gesetzlich vorgesehenen Lösungen schliessen in der Regel diejenigen mit sehr geringen Ressourcen aus. “Viele der Betroffenen haben keine realistische Aussicht, wieder schuldenfrei zu leben”, stellt ein Bericht des Bundesrates (Landesregierung) zum Thema Sanierungsverfahren für PrivatpersonenExterner Link fest.

Ein erster Schritt wurde am Montag unternommen: Beide Parlamentskammern unterstützten die Motion des sozialdemokratischen Ständerats Claude HêcheExterner Link einstimmig. Sie fordert die Regierung auf, das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und KonkursExterner Link zu ändern, um eine kurzfristige wirtschaftliche Wiedereingliederung überschuldeter Menschen zu ermöglichen. Ausserdem wird die Einführung eines Mechanismus vorgeschlagen, der unter bestimmten Bedingungen einen Schuldenerlass ermöglicht.

Überschuldung

Gemäss Definition der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)Externer Link liegt eine Überschuldung vor, “wenn der Anteil des verfügbaren Einkommens nach Deckung des Existenzminimums nicht ausreicht, um finanzielle Verpflichtungen innerhalb einer angemessenen Frist zu erfüllen.”

Die Schweiz ist eine Ausnahme

In Europa ist die Schweiz eine Ausnahme. Sie ist eines der wenigen Länder, das über keine Schuldenerlass-Verfahren verfügt. Die Europäische Kommission, die UNO, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Weltbank empfehlen die Einführung dieses Instruments, um die Betreibungskosten zu senken, den Betroffenen eine zweite Chance zu geben und das Unternehmertum zu fördern.

“Die Schweiz hinkt hinterher, weil die Parlamentarier wenig Interesse an diesem Thema zeigen”, stellt Sébastien Mercier fest. Er ist Generalsekretär von Schuldenberatung SchweizExterner Link, dem Dachverband der Schuldenberatungsdienste. “Unser System schafft und verschärft die Überschuldung”, sagt er.

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Wenn eine Person Schulden ansammeltExterner Link, besteht heute nur die Möglichkeit, ihr Gehalt pfänden zu lassen, den Privatkonkurs anzumelden oder Rückzahlungsvereinbarungen direkt mit Gläubigern oder Gerichten zu treffen. Diese Verfahren machen es für überschuldete Personen schwierig, aus der Verschuldung herauszukommen, da sie oft teuer, zeitaufwendig und kompliziert sind. Ausserdem verhindern sie nicht, dass sich neue Schulden ansammeln und langfristig verlängern (die Verjährungsfrist in einem Pfändungsverfahren beträgt 20 Jahre).

Mangel an Statistiken

In der Schweiz gibt es nur wenige Zahlen zur Verschuldung. Die jüngsten verfügbaren Daten beim Bundesamt für Statistik stammen aus der Erhebung SILC 2013 (Statistics on Income and Living Conditions)Externer Link aus dem Jahr 2013. Sie zeigen, dass 18,5% der Bevölkerung in einem Haushalt leben, der mindestens zwei Arten von Schulden hat, und dass 31,8% der Bevölkerung in einem Haushalt leben, der mindestens ein Darlehen erhalten hat.

“In der Schweiz wollen wir das Problem der Verschuldung nicht wirklich sehen. Es gibt nicht wirklich Statistiken, die SILC-Umfrage gibt einen sehr vagen Überblick und die Betreibungsämter unterscheiden nicht zwischen Personen und Unternehmen”, erklärt Mercier. Die SILC-Erhebung von 2008 schätzte, dass 570’000 Menschen in Haushalten mit problematischen Kontoüberziehungen oder Zahlungsrückständen leben: “Diese Zahl erscheint mir glaubwürdig”, sagt Mercier.

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Überschuldung ist ein langer und komplexer Prozess, dem häufig verschiedene Ursachen zugrunde liegen. “Die häufigsten objektiven Elemente, denen wir begegnen, sind Arbeitslosigkeit, Scheidung und Krankheit oder gescheiterte Selbständige”, so Mercier. “Dazu kommen subjektive Elemente wie Organisationsschwierigkeiten oder administrative Probleme.”

Im Allgemeinen tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein und ermöglicht es nicht mehr, alle Kosten zu bezahlen. Also jonglieren die Leute mit ihren Rechnungen und bezahlen die dringendsten. “Steuerrechnungen kommen später, daher die Anhäufung von Steuerschulden”, sagt Mercier. “Die sozialen Kosten des Schuldenabbaus sind enorm, vor allem für die Gemeinschaft. Die Überschuldung schafft auch gesundheitliche Probleme, da die Betroffenen ständig gestresst sind und sparen wo sie können, so dass sie schlecht essen und auf medizinische Behandlungen verzichten.”

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Die Regierung muss nun eine Gesetzesänderung ausarbeiten und sie dem Parlament vorlegen. Der Bundesrat favorisiert zwei Ansätze: die Verpflichtung der Gläubiger zur gütlichen Einigung und die Einführung der Möglichkeit, Schulden unter bestimmten Bedingungen zu erlassen.

“Diese Motion ist ein guter Anfang, aber die richtige Arbeit folgt erst, denn wir müssen mehrheitsfähige Massnahmen finden”, sagt Mercier. “Eine gute Option, die schnell umgesetzt werden könnte, wäre die Verbesserung der bestehenden Verfahren.” Eine entsprechende parlamentarische InitiativeExterner Link ist ebenfalls von Ständerat Claude Hêche eingereicht worden, sie wurde aber noch nicht behandelt. Mercier hofft, dass diese zukünftigen Gesetzesänderungen die Situation für Personen, die sich heute von den Schulden befreien können, nicht verschlimmert.

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(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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