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Charles Aznavour: Ein von der Zeit Vergessener

"Eher erkannt als bekannt", sagt Charles Aznavour. swissinfo.ch

Charles Aznavour, Sänger, Komponist, Schauspieler, Autor und Botschafter Armeniens in der Schweiz war Gast am Genfer Buchsalon. swissinfo.ch hat mit ihm über das Schreiben, Armenien und ein reiches Leben von fast 87 Jahren gesprochen.

Ein Hotel im Zentrum Genfs. Charles Aznavour ist praktisch ein Nachbar: Er lebt bereits seit Jahrzehnten am Ufer des Genfersees.

Entspannt, freundlich, die gleiche Silhouette wie vor 10, 20, 30 Jahren. Und eine Lebhaftigkeit, der die Jahre nichts anhaben konnten. Aznavour verströmt immer noch diese erstaunliche Mischung aus Selbstsicherheit und Demut.

swissinfo.ch: Ist es für Sie wichtig, Menschen auch neben der Bühne zu treffen?

Charles Aznavour: Ich treffe mein Publikum oft ausserhalb des Theaters: Ich gehe alleine zum Einkaufen, habe keine Leibwächter, führe ein normales, durchschnittliches Leben.

Da ich mehrere Sprachen spreche, kann ich mich mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen unterhalten. Wenn man sich täglich mit diesem Publikum auseinandersetzt, ist man den Leuten auch näher, um für sie zu schreiben.

swissinfo.ch: “Das Gesamtwerk” Ihrer Chansontexte ist Ende 2010 herausgekommen. Sie haben einmal gesagt, der Sänger Aznavour halte die Kritik aus, nicht aber der Autor…

C.A.: Das ist immer noch so. Ich weiss nicht, warum mich einer, der Artikel schreibt, für mein Schreiben kritisiert. Ich kann einen Artikel schreiben. Kann er auch ein Lied schreiben? Das ist der Unterschied.

Ich bin da sehr hart. Weil ich behaupte, dass meine Lieder sehr gut geschrieben sind. Nicht jene meiner Anfänge, aber über die Jahre gab es eine Evolution, die zu einer Art Perfektion geführt hat – nicht total, man ist nie perfekt –, die man nicht bei vielen findet.

swissinfo.ch: Im Buch “Mit leiser Stimme” vergleichen Sie das Schreiben eines Chansons mit einer Fotografie, einer Momentaufnahme…

C.A.: Sehen Sie, ich habe immer eine Kamera dabei. Es ist wahr, dass ich die Orte, die Menschen festhalte. Fotos, die ich oft nicht behalte, denn wenn ich die Essenz daraus gezogen habe, reicht mir das.

swissinfo.ch: Entstammen viele ihrer Chansons einer realen Situation?

C.A.: Ja. Was man mir erzählt, worüber gesprochen wird, was ich wahrnehme, was mir anvertraut wird.

swissinfo.ch: Armenien ist das Gastland am diesjährigen Buchsalon. Sie sind seit 2009 Botschafter Armeniens in der Schweiz und auch in dieser Funktion an den Buchsalon gekommen.

C.A.: Das habe ich am Freitag zur Eröffnung gemacht. Heute bin ich der französische Autor von Chansons und Büchern, die ich geschrieben habe. Auch wenn ich wie ein Kaffee mit Rahm bin – wenn man den Rahm in den Kaffee geschüttet hat, kann man sie nicht mehr trennen –, beruflich und in meinem Leben sind Armenien und Frankreich komplett getrennt.

Ich habe meine armenischen Wurzeln nie verleuget, aber die prägende Kultur für mich ist französisch und wird immer französisch bleiben.

swissinfo.ch: In diesem Zusammenhang: Im Buch “Mit leiser Stimme” schreiben Sie viel über Armenien und unterstreichen ihre starke Bindung zu Frankreich. Aber nicht ein Wort über die Schweiz. Wollen Sie uns verärgern?

C.A.: Die Schweiz ist ein Zufluchtsort. Alles hier ist ruhiger, bescheidener, sogar die Verkehrsampeln schalten viel langsamer um! Es ist ein Land, das ich respektiere und sehr liebe.

Ich habe meine Kinder eingebürgert. Mich selber wollte ich aber nicht einbürgern, aus Loyalität zu Frankreich, das meinen Eltern die Möglichkeit gegeben hatte, ein normales Leben zu führen, ihre Kinder grosszuziehen. Ich könnte das nicht verraten.

swissinfo.ch: Sie unterstützen “Die Strassenlampen der Erinnerung”, ein Mahnmal für den armenischen Genozid, das 2013 in Genf eröffnet wird. Ein Projekt, das in der türkischen Gemeinde der Schweiz hohe Wellen geworfen hat.

C.A.: Ich fand es von erhabener Schönheit. Mehr schweizerisch als armenisch, auch wenn ein junger Armenier es entworfen hat. Es ist kein Denkmal für die Toten, sondern ein grossartiger Ort, fast eine Art Rambla, auf die man hingeht, um seine zukünftige Braut zu treffen.

swissinfo.ch: Sehen Sie eine Verbindung zwischen Ihren Werken und Ihrer armenischen Herkunft, mit all den Dramen, die damit einhergehen?

C.A.: Es war das, was mich näher an die Schwierigkeiten der Menschen gebracht hat. Der Lebenskummer ist überall. Man findet ihn bei den Armeniern, aber auch bei den Spaniern, den Juden, heute bei den Maghrebinern, wie man ihn bei den Schwarzafrikanern gefunden hat. Ich habe Gedichte von anonymen armenischen Frauen gelesen, das ist sehr nah an meiner Schreibweise.

swissinfo.ch: Sie haben vier autobiographische Bücher publiziert, ein fünftes, “D’une porte l’autre”, kommt im September heraus. Wie bringen Sie die Schüchternheit und Bescheidenheit, die Sie oft heraufbeschwören, zusammen mit dieser Lust, über Ihr Leben zu erzählen?

C.A.: Das Schreiben ist ein Ventil. Denn ich schreibe Bücher, nicht Literatur. Ich habe lange gebraucht, bis ich in Prosa zu schreiben wagte, denn meine Kultur erlaubte mir das nicht. Man soll die Makel nicht verneinen, die man hatte oder immer noch hat.

Das Wort, das ist etwas anderes: Man schaut Sie dabei an. Sie sehen die Augen der anderen, ihre Reaktionen. Man stellt sich nackt vor die Leute. Ich setzte mich nackt in Szene, denn ich bin ein Komödiant im Chanson.

swissinfo.ch: Wenn man Ihre Werke liest, denkt man, eine paradoxe Seite bei Ihnen zu finden. Ein ganzes Leben – dem Spektakel verschrieben, seit der Kindheit – und gleichzeitig Ihre sehr vernünftige, kluge Dimension, dieses “geerdet sein”.

C.A.: Wissen Sie, wenn man ein Immigrantenkind ist, muss man die Füsse am Boden behalten. Man sieht die Schwierigkeiten, die unsere Eltern hatten, um uns aufzuziehen, nur allzu gut. Sie versuchten, das Böse nicht zur Tür hereinzulassen und uns zu zeigen, dass das Gute auch existiert.

swissinfo.ch: Dieses Jahr ist das Jahr Ihrer grossen Rückkehr auf die Bühne, im Frühling in Belgien und Italien, bevor Sie im Herbst im Pariser Olympia auftreten und dann auf Ihrer Frankreich-Tournee auch in Genf haltmachen. Warum kehren Sie zurück?

C.A.: Der Ruhestand ist das Vorzimmer zum Tod. Ich habe keine Lust, sofort zu sterben. Solange ich noch fähig bin, etwas zu machen, werde ich das tun. Und ich werde genügend hellsichtig sein, um jenen Moment zu erkennen, an dem ich nicht mehr genügend interessante Dinge schreiben werde.

Je mehr ich schreibe, desto mehr stelle ich fest, dass ich nicht mehr die Zeit finden werde, all das zu beenden, was ich angefangen habe. Ich habe haufenweise Themen, die noch im Entwicklungsstadium sind oder zur Hälfte geschrieben, aber ich schaffe es nicht, alles abzuschliessen, weil immer neue Ideen hereinschneien! Die Zeit wird mir fehlen, ja. Ausser, ich lebe bis 120…

Geboren am 22. Mai 1924, per Zufall in Paris: Seine Eltern, die aus der Türkei emigrierten, warteten dort auf ein US-Visum. Sie entscheiden, in Paris zu bleiben. Aus Shahnourh Varinag Aznavourian wird Charles Aznavour, französischer Sänger.

In den 1970er-Jahren flüchtet er vor “administrativer Belästigung” nach Crans Montana im Kanton Wallis.

Später kauft er ein Gut in Cologny, einer schicken Genfer Vorstadt, wo er heute noch lebt.

1988 gründet er nach heftigen Erdbeben in der Region die “Fondation Aznavour pour l’Arménie”.

2006 gibt er vor 100’000 Personen ein Openair-Konzert in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens.

Im Dezember 2008 wird Aznavour von Präsident Serge Sarkissian die armenische Staatsbürgerschaft verliehen.

Im Februar 2009 nimmt Aznavour den Posten als ehrenamtlicher Botschafter in der Schweiz an, am 30. Juni 2009 wird er von der Schweiz akkreditiert.

Seit 2009 ist Aznavour auch permanenter Vertreter Armeniens bei der UNO in Genf.

Paris, Olympia: 7. Sept. bis 6. Okt. 2011.

Anschliessend Tournee durch Frankreich, mit einem Abstecher in die Genfer Arena am 3. Nov. 2011.

Die 25. Ausgabe findet bis zum 3. Mai im Genfer Palexpo statt.

Armenien und das Bundesamt für Kultur sind die diesjährigen Ehrengäste.

Im Zusammenhang mit dem Buchsalon finden in Genf weitere Messen statt: Salon der Studenten und der Bildung, Afrikanischer Salon und “Artbygenève”, die internationale Genfer Kunstmesse.

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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