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Schweizer Schule für Erdbebenopfer in Sichuan

swissinfo.ch

China gedenkt der Opfer des schweren Erdbebens 2008, das sich am 12. Mai erstmals jährt. Unter den 87'000 Opfern waren viele Schulkinder. Die Schweiz beginnt im Krisengebiet in wenigen Tagen mit dem Bau eines Kindergartens.

“Wir dürfen und müssen die chinesischen Behörden daran erinnern, dass sie gegenüber Opfern und deren Angehörigen eine Informationspflicht haben”, sagt Blaise Godet gegenüber swissinfo.

Der Schweizer Botschafter in Peking münzt diese Aussage auf die Haltung der lokalen Behörden angesichts des ersten Jahrestages der Naturkatastrophe in der Region Sichuan.

Medienzensur, ausgesperrte Journalisten, das Fehlen einer Opferliste, tausende Schulen, die eingestürzt sind, Versammlungsverbot für Eltern, deren Kinder umkamen, nur kleine oder gar keine finanziellen Hilfen sowie Drohungen und Einschüchterungen: Es ist vorbei mit der Transparenz, welche die unmittelbare Krisenbewältigung gekennzeichnet hatte. Der eiserne Vorhang ist wieder gefallen.

Tibet-Aufstände vergessen machen

Die Offenheit, mit der China gleich am Tag nach dem Erdbeben ans Werk ging, sollte einerseits die Proteste in Tibet vergessen machen, andererseits das Image des Landes vor den Olympischen Sommerspielen aufpolieren.

Ein Jahr danach besteht offenbar kein Grund mehr für eine Charme-Offensive. Auf der Tagesordnung steht wieder die alte “Tugend” – die Wahrung der Interessen der lokalen Parteiführer.

In dieser Situation will die Schweiz ihrer Stimme Gehör verschaffen. “Wir legen grossen Wert auf Transparenz und beharren regelmässig darauf, insbesondere im Menschenrechtsdialog, den wir seit 1991 mit China führen”, erklärt der Botschafter. Jetzt geht es der kleinen Schweiz mit ihren guten Diensten aber darum, dass die Hilfe tatsächlich bis zu den Bedürftigen durchdringt.

Am Morgen des 13. April kamen Stephan Titze und Felix Sutter in Long Xing an. Die Ortschaft im Distrikt ChongZhou liegt 30 Kilometer nordwestlich von Chengdu, der Haupstadt der Provinz Sichuan.

Die beiden sind verantwortlich für das Wiederaufbau-Projekt für eine Krippe für 400 Kinder, das die Schweizerisch-Chinesische Handelskammer von Schanghai (SwissCham) finanziert.

Private Vertreter der schweizerischen Gemeinde in China und Schweizer Unternehmen haben rund eine Million Franken aufgebracht. Einen Teil steuerte auch die Entwicklungshilfe bei.

Der erste Spatenstich war ursprünglich für Februar geplant, wurde aber auf Mitte April verschoben. Jetzt soll es am 20. Mai soweit sein. Dann könnte die Tagesstätte noch in diesem Jahr ihre Tore für die kleinen Gäste öffnen.

Kinder unter Beobachtung

Stephan Titze und Felix Sutter sind gekommen, um die letzten Details zu klären. Sie werden von zwei Journalisten sowie dem Westschweizer Fotografen Petri de Pità begleitet.

De Pità will die künftigen Bewohner der Krippe porträtieren. Er hat die Kleinen gebeten, Zeichnungen mit ihren Zukunftsvisionen anzufertigen. Dasselbe hat er mit einer Klasse in der Schweiz vor. Die besten Zeichnungen vereinigt de Pità dann zu einem Kalender.

Langes Händeschütteln, Verbeugungen, Willkommensreden: Die lokalen Verantwortlichen begrüssen die Schweizer Gäste in den Ruinen der alten Schule in Long Xing, wo es glücklicherweise unter den Kindern keine Opfer gegeben hatte.

Eingeschüchtert vom Aufzug der vielen Erwachsenen, geben die Minen der Kinder keine Auskunft darüber, ob die mitgebrachten roten Mützen mit dem weissen Kreuz und die Bleistifte gut ankommen. Der Fototermin verläuft sehr steif, jede Geste, jedes Wort wird überwacht, genau wie die Motive ihrer Zeichnungen.

Das Recht, Fragen zu stellen

“Ich habe den Eindruck, man will uns mehr die positive Entwicklung seit dem Beben zeigen und nicht die Aufgaben, die es noch zu bewältigen gibt”, sagt Petri de Pità. Von der extremen Schüchternheit der Kinder zeigt er sich überrascht.

Das Thema Erdbeben dürfen die Journalisten nicht anschneiden. Nach hartnäckigem Disput erlauben die Gastgeber höchstens ein paar unverfängliche Fragen an die Kleinen.

Recherchen unerwünscht

Später im Büro des stellvertretenden Bürgermeisters von ChongZhou: Auf die Frage eines Journalisten, weshalb sich die Behörden auch ein Jahr nach der Katastrophe immer noch weigerten, eine Liste der Opfer herauszugeben, tritt eisiges Schweigen ein, das nicht mehr weicht.

Am nächsten Tag wird den Gästen aus dem Ausland ein nicht enden wollendes Mahl offeriert, bei dem auch Alkohol nicht fehlt. Hinter der Einladung steht wohl nicht nur die sprichwörtliche chinesische Gastfreundschaft, sondern auch das Bestreben, die Journalisten an eigenen Recherchen zu hindern.

“Vogelnest”-Architekt als Kritiker

Ai Weiwei, künstlerischer Berater der Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron bei deren Bau des Pekinger Olympiastadions, auch “Vogelnest” genannt, kritisierte die Lügen der lokalen Parteioberen öffentlich.

Er rekrutierte Hunderte von Helfern, welche Sichuan durchkämmen, um die fehlenden Opferlisten zusammen zu stellen. Weiwei publiziert die Namen anschliessend in seinem Internet-Blog. Der Prominente gibt zu, angesichts dieser Herausforderung der Mächtigen Angst zu haben.

“Aber ich denke, es ist meine Aufgabe, nach der Wahrheit zu suchen. Die mehreren Tausend Schüler waren unschuldig, jetzt sind sie tot. Und wenn man keine Fragen stellt, ist die Sicherheit nicht gewährleistet. Werden die richtigen Fragen nicht gestellt, ist das Land in Gefahr.”

Ein Beben der Stärke 7,9 erschütterte am 12. Mai 2008 um 14.28 Lokalzeit (GMT 06.28) die Region Wenchuan in der Provinz Sichuan.

Das Beben ereignete sich 29 Kilometer unter der Erdoberfläche, das Epizentrum lag 92 Kilometer ausserhalb der Provinzhauptstadt Chengdu. Es kam auch zu starken Nachbeben.

Gemäss heutigen Erkenntnissen kamen dabei knapp 90’000 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Kinder.

Die Erschütterungen waren in ganz China und bis in die thailändische Hauptstadt Bangkok sowie bis nach Vietnam spürbar.

Die Schweiz stellte den Betroffenen für die Sofort- und humanitäre Hilfe 1,5 Mio. Franken zur Verfügung.

Das Wiederaufbau-Projekt für eine Krippe für 400 Kinder wird von der Schweizerisch-Chinesischen Handelskammer von Schanghai (SwissCham) finanziert.

Private Vertreter der schweizerischen Gemeinde in China und Schweizer Unternehmen haben rund eine Million Franken aufgebracht.

Die Entwicklungshilfe beteiligt sich mit 50’000 Franken.

Die Arbeiten sollen am 20. Mai beginnen.

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(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)

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