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Der Arzt ohne Grenzen

Ein Arzt ohne Grenzen im Einsatz in Leer im Süden Sudans. Keystone

Médecins Sans Frontières Schweiz lindert Leid im kriegsversehrten Darfur, betreut Aids-Patienten in Mozambique und bekämpft Tuberkulose in Kirgisistan. Seit 25 Jahren leistet MSF medizinische Hilfe in aller Welt.

Antoine Chaix ist einer von vielen Freiwilligen. Er ist im Vorstand von MSF Schweiz und war als Arzt mehrmals im Einsatz.

Sein erster Einsatz dauerte sieben Monate und führte ihn 1997 nach Berg-Karabach in Aserbaidschan. Es ging um die Behandlung von Tuberkulose.

“Das Krankheitsbild der TB hatte ich bei meiner mehrjährigen Tätigkeit in der Schweiz kaum gesehen. Um mich einzuarbeiten, besuchte ich Projekte in Abchasien und Südossetien, wo politische Spannungen herrschten. Plötzlich befand ich mich in einer völlig neuen Welt.”

Als junger Arzt musste er gegenüber erfahrenen kasachischen Kollegen die Richtlinien der WHO (Weltgesundheits-Organisation) durchbringen. Kein leichtes Unterfangen. Diplomatisches Fingerspitzen-Gefühl war gefragt.

Aus Sicherheitsgründen durften die MSF-Leute das Haus nie alleine verlassen, es gab keine Restaurants, keine Ablenkung. “Teamfähigkeit ist extrem wichtig. Man arbeitet und wohnt immer mit den gleichen Menschen zusammen. Eine Art Big-Brother-Stimmung – alle im gleichen Container.”

“Man kann nicht allen helfen”

Bis im Jahr 2002 leistete Antoine Chaix weitere Einsätze in Kasachstan, Mozambique und Sierra Leone. Erinnerungen an diese Zeiten hat er viele.

“In Sierra Leone existierte im Osten des Landes keine medizinische Versorgung, es gab Flüchtlingsströme, mangelernährte Kinder.” In kürzester Zeit baute MSF ein Zentrum für 100 Kinder auf. “Wenn man so schnell etwas bewegen kann, ist das enorm befriedigend.”

Es gebe aber auch Schattenseiten: “Ich erinnere mich an ein zweijähriges Kind in einem Cholera-Lager, das buchstäblich unter meinen Augen wegstarb. Ich musste lernen, dass man sehr viel machen, aber nicht allen helfen kann.”

Vorwiegend Nothilfe

MSF ist vor allem in Krisen- und Kriegsgebieten im Einsatz, ob nach einer Erdbebenkatastrophe wie 2005 in Pakistan, Ende 2004 beim verheerenden Tsunami, bei bewaffneten Konflikten wie in Darfur im Sudan oder im Sommer dieses Jahres im Libanon.

“Unsere Emergency-Teams sind immer sehr rasch aktiv. Oft sind wir und das IKRK alleine präsent, es entstehen Synergien, auch wenn das IKRK ein anderes Mandat hat. Beide Seiten können voneinander profitieren.”

Das IKRK überwacht insbesondere die Einhaltung der Genfer Konventionen und kümmert sich um Kriegsopfer.

Wenn es sein muss prangert MSF gravierende Missstände an, von denen Mitarbeiter Zeugen sind. Das sei mit ein Grund, dass MSF 1999 den Friedensnobelpreis erhalten habe, so Chaix.

Allerdings müsse ein solcher Schritt gut überlegt sein. Gerade in totalitären Regimes riskiere man, des Landes verwiesen zu werden.

Bekämpfung von Aids

Das Profil der Ärzte ohne Grenzen hat sich in den letzten Jahren geändert: Neu sind langfristige Programme zur Bekämpfung von Aids und der resistenten Form von Tuberkulose. “Eine enorme Herausforderung”, sagt der Allgemeinpraktiker.

“Aids ist eine erschreckende Pandemie, die sich über der ganzen Erde ausbreitet. Jedes Jahr sterben drei Millionen Menschen, das sind 10 Tsunamis. Am stärksten betroffen ist Afrika.”

MSF führt seit 2001 Aids-Behandlungen durch, 60’000 Betroffene profitieren von einer antiretroviralen Therapie. 1999 lancierte die Hilfsorganisation zudem eine Kampagne für den Zugang zu günstigeren Medikamenten.

“Mit Grossproduktionen von Generika u.a. in Indien konnte der Preis pro Patient und Jahr von mehreren Tausend Dollar auf 300 reduziert werden.”

Gefährliche Arbeit

Eine weitere Veränderung gibt es laut dem Zürcher Arzt auf der humanitären Seite. Da Hilfseinsätze seit den Kriegen in Afghanistan und im Irak öfter militärisch begleitet würden, seien die beiden Seiten nicht klar zu unterscheiden.

Diese Entwicklung war wahrscheinlich mit ein Grund, dass 2003 in Afghanistan 5 MSF-Mitarbeiter umgebracht wurden, obwohl MSF unabhängig agiert. “Der humanitäre Spielraum wird tendenziell enger.”

Zurück aus dem Feld

Wenn Chaix jeweils von einem Einsatz aus einer Krisenregion in die reiche Schweiz mit einem der teuersten Gesundheitssysteme zurückkam, war er in der Regel schnell wieder in der alten Welt zuhause.

“Angesichts dieses enormen Nord-Süd-Gefälles muss gerade ein Arzt professionell genug sein, um sich in seiner Rolle zurechtzufinden, denn jeder hat das Recht auf eine entsprechende Behandlung.”

Es sei ernüchternd, wie schnell man wieder in gewissen Abläufen drin sei, “so dass man sich übers Tram nervt, das 3 Minuten zu spät kommt, wo man vorher froh war, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, innerhalb eines Tages von A nach B zu gelangen”.

swissinfo, Gaby Ochsenbein

MSF ist eine internationale humanitäre Organisation. Sie leistet weltweit medizinische Hilfe für Opfer von Natur-Katastrophen sowie von bewaffneten Konflikten.

MSF wurde 1971 im Zuge der Biafra-Krise gegründet als Reaktion auf die humanitäre Hilfe, die durch Bürokratie und Einmischung von Regierungen eingeschränkt war.

MSF stützt sich auf die Prinzipien Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Freiwilligkeit.

Die Ärzte ohne Grenzen erachten es als ihre Pflicht, Zeugnis abzulegen über Missstände, die sie vor Ort antreffen.

1981 entstand MSF Schweiz, nach Frankreich und Belgien die 3. Sektion. Heute gibt es 19 Länder-Sektionen.

Die Schweiz ist eines der 5 operationellen Zentren.

MSF ist in 72 Ländern tätig, MSF Schweiz in 20.

1999 erhielt MSF den Friedensnobelpreis.

Antoine Chaix wurde 1964 in Genf geboren.
Er studierte in Freiburg und Bern Medizin.
Zwischen 1997 und 2002 leistete er für MSF Einsätze in Berg-Karabach, Kasachstan, Mozambique und Sierra Leone.
Er lebt in Einsiedeln, Kanton Schwyz, und arbeitet als Allgemein-Praktiker in einer Gruppenpraxis in Zürich.
Seit 2004 ist im Vorstand von MSF Schweiz.

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