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Die OSZE ist nach 30 Jahren im Umbruch

1996: Der damalige Schweizer Aussenminister und OSZE-Vorsitzende Flavio Cotti bei einem Besuch im kriegsversehrten Sarajewo. Keystone

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa muss sich neu orientieren. Auch für die Schweiz hat sie an Bedeutung verloren.

1996 sei für die Schweiz ein Höhepunkt gewesen, als sie in ihrem OSZE-Präsidialjahr viel Lob erntete, sagt swisspeace-Direktor Laurent Goetschel im Gespräch mit swissinfo.

Vor 30 Jahren unterzeichneten 35 Staaten die Schlussakte von Helsinki – ein wichtiges Dokument zur Überwindung des Kalten Krieges zwischen Ost und West. Auch die Schweiz gehört zu den Gründungsmitgliedern der damaligen KSZE, der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Für Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace und Professor für Politologie am Europainstitut der Universität Basel, hat sich die Schweiz für die damaligen Verhältnisse, als die Neutralität noch sehr handlungsprägend war für die Aussenpolitik, äusserst stark engagiert.

swissinfo: Laurent Goetschel, wie wichtig war die Beteiligung an dieser Organisation für die Schweiz, die damals noch nicht UNO-Mitglied war und bis heute weder der EU noch der NATO angehört?

Laurent Goetschel: Für sie war es eine Möglichkeit, bei der Gründung eines Forums mitzuwirken, an dem sozusagen alle wichtigen Staaten aus Ost und West beteiligt waren. Es war weder ein Ersatz für die UNO noch für die damalige Europäische Gemeinschaft oder für die NATO, denn diese Organisation war viel loser.

In der Anfangsphase war es eigentlich gar keine Organisation, deswegen hiess sie auch Konferenz. Immerhin war sie aber eine halbwegs institutionalisierte Form der multinationalen internationalen Zusammenarbeit.

swissinfo: Also eine Gelegenheit für die Schweiz, sich auf dem internationalen Parkett zu profilieren?

L.G.: Genau.

swissinfo: 1996, als die KSZE bereits OSZE hiess, erlebte die Schweiz einen Höhepunkt. Die Schweiz hatte das Präsidium inne und erntete viel Lob. Woran lag das?

L.G.: Die Schweiz hat sich tatsächlich sehr stark eingesetzt in diesem Jahr. Man kann vielleicht sagen, dass die Schweiz sogar unbeabsichtigt zu einer relativ wichtigen Rolle gekommen ist in dem Jahr, denn es stellten sich der OSZE zahlreiche Herausforderungen, die noch nicht absehbar gewesen waren, als die Schweiz ihre Kandidatur eingereicht hatte.

swissinfo: Was genau hat die Schweiz in diesem Jahr bewirkt?

L.G.: Unter anderem fanden in Bosnien-Herzegowina die ersten Wahlen nach dem Krieg statt. Es ging um die Frage, ob die Zeit überhaupt reif war für Wahlen und dann auch um die Organisation der Wahlen, inklusive der Beteiligung der Flüchtlinge, die nicht auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina lebten. Die Schweiz erntete sowohl für den Termin der Wahlen wie auch für den relativ reibungslosen Ablauf dieser Operation viel Ruhm.

Ein weiterer Punkt war die OSZE-Unterstützungsgruppe für Tschetschenien, in der die Schweiz mit Tim Guldimann als Leiter sehr aktiv war.

swissinfo: Die Schweiz ist seit drei Jahren Mitglied der UNO. Hat die OSZE damit für die Schweiz an Bedeutung verloren?

L.G.: Die Mitwirkung der Schweiz innerhalb der Vereinten Nationen ist viel bedeutender als die Mitwirkung in der OSZE. Die OSZE hat aber allgemein an Bedeutung eingebüsst. Wichtig war sie zur Zeit des Kalten Krieges und in der unmittelbaren Phase danach, weil sie damals das einzige Forum war, das sowohl Ost wie West beinhaltete.

Seit der Kalte Krieg geschichtlich weiter zurückliegt, hat es die OSZE vielleicht nicht ganz geschafft, ihre Bedeutung beizubehalten. Nicht zuletzt deswegen, weil Organisationen wie der Europarat, die EU und auch die NATO, die sich früher auf Westeuropa beschränkten, sich um wichtige Staaten in Mittel- und Osteuropa erweitert haben und damit viel stärker geworden sind.

swissinfo: Braucht es die OSZE überhaupt noch?

L.G.: Die OSZE spielt nach wie vor eine Rolle. Sie hat was Minderheiten betrifft eine wichtige Funktion zu erbringen, sie ist auch die einzige Organisation, abgesehen vom Europarat, in der Russland Vollmitglied ist.

Die zentralen Fragen aber, da muss man ehrlich sein, werden nicht im Rahmen der OSZE abschliessend behandelt.

swissinfo: Die OSZE steht an einem Wendepunkt und will sich reformieren. Wo sehen Sie das künftige Tätigkeitsfeld dieser Organisation?

L.G.: Die OSZE ist auf dem Gebiet der Wahlbeobachtungen nach wie vor aktiv. Sie kann auch in Ländern wie Usbekistan, Kirgistan, der Ukraine und Weissrussland tätig sein, denn diese Länder sind in keiner anderen europäischen Organisation Mitglied.

Ein weiterer wichtiger Bereich ist der Umgang mit nationalen Minderheiten, der in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten ein Problem darstellt. Auf diesem Gebiet hat sich die OSZE in der Vergangenheit profiliert, und zwar anders als der Europarat, der mehr auf rechtliche Normen ausgerichtet ist. Die OSZE dagegen hat sich auf politisch relevante Normen spezialisiert.

swissinfo: Sie sehen also eine Zukunft für die OSZE?

L.G.: Ja, ich bin überzeugt, dass die Organisation eine Zukunft hat. Sie muss sich aber den erneut veränderten Rahmenbedingungen anpassen.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

1.August 1975: Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte durch 33 europäische Staaten, darunter auch die Schweiz, sowie die USA und Kanada.
Die Organisation heisst Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
1994: Umbenennung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
1996: Die Schweiz übernimmt unter Aussenminister Flavio Cotti das jährliche Präsidium der OSZE.
Heute zählt die OSZE 55 Mitgliedstaaten.
Das OSZE-Budget beträgt 260 Mio. Fr., 8–9 Mio. stammen aus der Schweiz. 73% fliessen in die 17 Feldeinsätze (Missionen).
Die OSZE unterhält unter anderen Missionen in Georgien, Armenien, Aserbeidschan, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisien.
Die OSZE beschäftig über 1000 internationale und 2400 lokale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Laurent Goetschel ist Geschäftsführer der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace und Professor für Politologie am Europainstitut der Universität Basel.

Von ihm ist das Buch “Vom Statisten zum Hauptdarsteller: die Schweiz und ihre OSZE-Präsidentschaft” erschienen. Bern, Verlag Paul Haupt, 1997.

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