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Die Schweiz, ihre Schokolade, Berge… und Waffen

Junger Mann mit Sturmgewehr. Hehre Tradition oder überholtes Bild? Thomas Kern

Am 13. Februar stimmen die Schweizerinnen und Schweizer über die Initiative "Für den Schutz vor Waffengewalt" ab, deren Ziel ein erschwerter Zugang zu Waffen ist. Tatsächlich gehören Gewehre zum helvetischen Alltagsbild – wie ein Rundgang zeigt.

Am Bahnhof: Quitschende Bremsen von ëinfahrenden Zügen. Passagiere, welche die Perrons stürmen oder verlassen: Menschen, die zur Arbeit fahren; Touristen, auf dem Sprung, die Schweiz zu entdecken. Und eine Gruppe Soldaten, mit umgehängten Sturmgewehren.  

Sind wir in Israel? Wurde eine Generalmobilmachung angeordnet? Nein, die Szene spielt in der Schweiz, an einem ganz gewöhnlichen Tag einer ganz normalen Woche.

Ist von einem Land die Rede, dessen Bewohner bis an die Zähne bewaffnet sind, denkt man zuerst an die USA. Doch auch die Schweiz gehört zu den ersten Ländern, was die Zahl der Waffen pro Kopf betrifft.

Dass Waffen Teil des Alltagsbildes der Schweiz ausmachen, erstaunt Beobachter und Gäste vor allem aus dem Ausland immer wieder. In seiner Dezember-Ausgabe publizierte das renommierte GEO-Magazin einen mehrseitigen Artikel unter dem Titel “Die Schweiz – neutrale Bürger, bis an die Zähne bewaffnet”.

Soldaten, bereit zum Kampf

Die Schweiz ist weder der Wilde Westen, noch herrschen in den Agglomerationen Zustände wie in Chicago der 1930er-Jahre, als sich Gangsterbanden in wilden Schiessereien bekämpften.

Dass Waffen auf der Bühne des Schweizer Alltags präsent sind, dafür sind zwei Besonderheiten verantwortlich. Erstens leistet die Mehrheit der Soldaten ihren Dienst in der Schweizer Armee nicht am Stück, sondern über Jahre verteilt in Wiederholungskursen.

Zweitens nehmen sie nach dem dreiwöchigen so genannten WK ihre ganze Ausrüstung mit nach Hause, inklusive Sturmgewehr oder Pistole. Die Idee dahinter stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert: Im Falle einer Mobilisierung der Schweizer Truppen sollten möglichst viele Wehrmänner innert kürzester Frist in den Kriegsdienst einrücken können. Dank des zuhause im Schrank gelagerten Gewehres samt Munition sollten sie sich den Weg zum Sammelplatz erkämpfen können, falls der Feind schon ins Land eingefallen wäre.

Heute aber ist von einem Feind weit und breit nichts mehr zu sehen, der eine solch wehrhafte Mobilisierung noch rechtfertigen würde. Die Armee gibt ihren Soldaten heute denn auch keine Taschenmunition mehr mit auf den Heimweg. Doch das Sturmgewehr, das beim Wehrmann zuhause im Schrank lagert, ist zu einer Tradition geworden, die für viele immer noch heilig ist.

Das “Obligatorische”

Das Sturmgewehr muss aber funktionsfähig bleiben, auch wenn der Schweiz keine Kriege drohen. Dafür sorgen die zahlreichen Schiesswettbewerbe ausserhalb des Dienstbetriebs der Schweizer Armee. So muss jeder Armee-Angehörige einmal jährlich in einem Schiessstand das “Obligatorische” schiessen. In Zivilkleidern nimmt er bei diesem obligatorischer Wettbewerb Zielscheiben aufs Korn, die 300 Meter entfernt sind.

Daraus haben begeisterte Schützen einen veritablen Sport entwickelt. Ihre Vereine sind in vielen Dörfern noch fester Teil des gesellschaftlichen Lebens, wie der Turnverein, die Musikgesellschaft oder der gemischte Chor.

Weil das Schiessen im Verein ab 16 Jahren gestattet ist, kann es vorkommen, dass man Jugendliche mit Sturmgewehr auf der Strasse kreuzt, oder im Laden, wo sie eine Dose Red Bull und einen Schokoladeriegel kaufen. Oder im Bus.

Für jene, die mit den Gepflogenheiten der Schweiz und ihrer Bewohner nicht so vertraut sind, können sich neben visuellen Überraschung auch solche akkustischer Natur ergeben: Da wandert man mitten in beschaulicher Natur, und plötzlich erschrickt man ob einer Knallerei, als wäre man mitten in die Schlacht um Fort Alamo geraten. Des Rätsels Lösung ist aber weit weniger dramatisch, führt doch der Wander- oder Spazierweg gleich neben einem Schiessplatz vorbei, wie er praktisch in jeder Gemeinde des Landes zu finden ist.

In der guten Stube

Scheiden die Soldaten aus Altersgründen aus der Armee aus, können sie ihre Waffe behalten, wenn sie dies wünschen. Dabei wird aber im Zeughaus die Funktion des Serienfeuers gesperrt.

Die hohe Zahl der Waffen in der Schweiz ist also parktisch per Gesetz vorgeschrieben. Zwar ist die genaue Anzahl der Schiessgeräte nicht bekannt. Die Schätzungen reichen aber bis zu zwei Millionen Gewehre und Pistolen neuerer und älterer Bauart und für jeglichen Zweck, sei es als Sportgerät oder zur Jagd.

Meist lagern die Waffen im Keller, auf dem Estrich oder in einem Schrank.  Gehört das Schiessgerät aber zur Spezies Sammlerstück, dürfen Gewehr oder Pistole das Wohnzimmer oder das Cheminée zieren, wenn sie nicht gar eine Viterine oder einen eigenen Waffenschrank verdienen.

Hat der Besucher aus dem Ausland einmal die Gunst, bei einem Waffensammler eingeladen zu sein, ist er vermutlich erstaunt, wenn er vom Hausherr mit den Worten begrüsst wird: “Willkommen bei mir zuhause. Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, meine Kinder, den Hund, und meine Gewehre?”

(Dieser Artikel ist Teil einer Serie zu den Eidgenössischen Abstimmungen vom 13.2.2011.)

Die Initiative wurde am 22. Februar 2009 bei der Bundeskanzlei mit 106’037 gültigen Unterschriften eingereicht.

Sie wird unterstützt von einer Koalition aus rund 70 Organisationen: Menschenrechts-Organisationen, Gewerkschaften, Vereine zur Suizidprävention, kirchliche Vereinigungen, Vereinigungen im Kampf gegen Gewalt an Frauen, Friedensbewegungen usw.

Wichtigste Forderungen: Schaffung eines eidgenössischen Waffenregisters, der Bedarf von Waffen muss nachgewiesen und die erforderlichen Fähigkeiten zum Waffenbesitz müssen vorhanden sein, Militärwaffen werden im Zeughaus aufbewahrt, Erwerb und Besitz von besonders gefährlichen Waffen (automatische Waffen, Pump Guns/Vorderschaft-Repetierflinten) sind für Privatpersonen verboten.

Auf politischer Ebene wird die Initiative von der Linken unterstützt. Die Regierung und die Mehrheit des Parlaments empfehlen die Initiative zur Ablehnung.

In den letzten 40 Jahren wurden 4700 Armeewaffen gestohlen oder gingen verloren.

Die Zahl der Verluste ist seit der Reform zur Armee XXI, die eine Verkleinerung der Bestände brachte, deutlich zurückgegangen.

Von 1995 bis 2004 verschwanden besonders viele Waffen, da in dieser Spanne viele Wehrmänner ihre obligatorischen Dienstzeit beendet hatten.

Zwischen 1969 und 2008 gingen 4581 Armeewaffen verloren, von denen nur 260 wieder auftauchten.

2008 meldete die Armee 49 Waffen als vermisst, 2009 waren es 26. In beiden Jahren kam fünf Exemplare wieder zum Vorschein (Quelle: sda).

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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