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Umstrittene Autonomie-Abstimmung annulliert

Männer und eine Frau an einer Pressekonferenz
Marcel Winistörfer, vorne, Stadtpräsident von Moutier, informiert am 5. November 2018 an einer Pressekonferenz. Für den Projurassier ist der Entscheid des Statthalteramts "eine Schande für ein Land, das ein Vorbild der Demokratie sein will". © KEYSTONE / LAURENT GILLIERON

Wegen Behördenpropaganda und anderen Unregelmässigkeiten ist die Abstimmung über den Wechsel der Berner Kleinstadt Moutier zum Kanton Jura für ungültig erklärt worden. Drohen jetzt Unruhen?

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Die Abstimmung von Juni 2017 über den Kantonswechsel Moutiers vom Kanton Bern zum Kanton Jura ist ungültig. Das hat die Regierungsstatthalterin des Berner Juras entschieden.

Statthalterin Stéphanie Niederhauser hiess damit mehrere Abstimmungsbeschwerden gut. In einer Mitteilung begründet sie ihren Entscheid in erster Linie mit dem Verhalten der Gemeinde Moutier und des Stadtpräsidenten von Moutier vor der Abstimmung vom 18. Juni 2017.

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Betrugsvorwürfe bei letzter Abstimmung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht In Moutier soll es bei der Abstimmung zur Kantonszugehörigkeit trotz strengster Überwachung zu Unregelmässigkeiten gekommen sein.

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Behördenpropaganda

Die Behörden von Moutier hätten zwar durchaus das Recht, vor einer solchen Abstimmung Stellung zu beziehen. Doch habe eine Behörde verhältnismässig, objektiv und transparent zu sein. Im vorliegenden Fall könnten die Auftritte der lokalen Behörden gleichgesetzt werden mit unzulässiger Propaganda. Sie seien geeignet gewesen, die Meinung der Wählerschaft in die Irre zu führen.

Bei der kommunalen Abstimmung vom Juni 2017 habe es weitere Unregelmässigkeiten gegeben. Niederhauser spricht von Abstimmungstourismus, fiktiven Wohnsitzen und “gravierenden Mängeln” in der Abstimmungsorganisation. Alles in allem könne sie deshalb nicht ausschliessen, dass ohne die erwähnten “gewichtigen Mängel” ein anderes Abstimmungsresultat herausgekommen wäre.

Bern ruft zur Ruhe auf

Die Berner Kantonsregierung zeigte sich enttäuscht, dass es beim Urnengang trotz zahlreicher Vorkehrungen zu “Unregelmässigkeiten und undemokratischem Verhalten” gekommen sei. Sie will einstweilen nicht über einen Wechsel von Moutier zum Kanton Jura verhandeln. Zunächst sei die Justiz am Zug.

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Der Bundesrat, die Behörden von Moutier und die Berner Regierung haben zur Ruhe aufgerufen. Aufruhr und Demonstrationen sind nicht auszuschliessen. Der Sprecher von Moutier ville jurassienne, Valentin Zuber, kündigte Proteste an.

Die Behörden von Moutier bezeichneten den Entscheid der Regierungsstatthalterin als “subjektiv”. Sie sind der Ansicht, dass “der Volkswille missachtet wird”. 

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Im pro-bernischen Lager ist Erleichterung zu spüren. Aber für Patrick Röthlisberger, Sprecher von Moutier-Prévôté, “wird die Jurafrage nie vorbei sein”. 

Die Autonomisten bestehen auf der Gültigkeit der Abstimmung. Sie kündigten an, den Annullierungsentscheid bis vor Bundesgericht zu bekämpfen. Ob die Abstimmung wiederholt wird oder nicht, ist also noch offen.

Kein Ende der Jurafrage

Die so genannte Jurafrage ist in der Schweiz eine hochemotionale Geschichte: In den 1960er- und 1970er-Jahren formierte sich die französischsprachige und katholische Minderheit im Kanton Bern zu einer separatistischen Volksbewegung, die einen autonomen Jura forderte.

Im Jahr 1978 wurde der Kanton Jura gegründet. Aber einige französischsprachige Gemeinden gehören noch immer zum Kanton Bern. In die Volksabstimmung über die Kantonszugehörigkeit von Moutier im Juni 2017 wurde die Hoffnung gesetzt, sie beende die Jurafrage definitiv. Die Abstimmung fand unter entsprechend strenger Überwachung statt.

Doch nach dem äusserst knappen Ergebnis – nur 137 Stimmen gaben den Ausschlag für den Wechsel zum Kanton Jura – wurden Unregelmässigkeiten publik, was zu zahlreichen Rekursen und Beschwerden führte. Von einem Ende der Jurafrage kann noch lange keine Rede sein.

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Zwei Jahrhunderte Jura-Frage

1815: Nach dem Sturz Napoleons weist der Wiener Kongress die sieben jurassischen Bezirke des Fürstbistums Basel dem Kanton Bern zu.

1950er-Jahre: Die separatistische Bewegung verzeichnet einen Aufschwung.

1974-75: Kaskadenplebiszite. Der Jura zeigt sich gespalten: Die drei Bezirke im Norden werden den neuen KantonExterner Link bilden, die drei Bezirke im Süden verbleiben im Kanton Bern, der Bezirk Laufen wird sich viele Jahre später, 1994, dem Kanton Basel-Landschaft anschliessen. In Moutier fällt der Entscheid für den Kanton Bern mit nur gerade 70 Stimmen Unterschied.

1979: Der Kanton Jura erhält offiziell seine Souveränität, nachdem die Schweizer Stimmberechtigten mit rund 82% der Stimmen Ja gesagt hatten zur Schaffung des neuen Kantons.

1994: Unter Ägide der Eidgenossenschaft einigen sich die Kantone Bern und Jura auf die Einsetzung der Inter-Jurassischen Versammlung (AIJExterner Link), einer Institution, deren Ziel Dialog und Versöhnung zwischen den beiden Seiten ist.

1998: Moutier organisiert eine Konsultativabstimmung über einen Wechsel der Gemeinde zum Kanton Jura, der mit 41 Stimmen Unterschied abgelehnt wird.

24. November 2013: Die Stimmberechtigten des Kantons Jura und des Berner Juras sagen mit 72% Nein zur Lancierung eines Prozesses für eine Fusion der beiden Regionen zu einem neuen, grösseren Kanton Jura. In Moutier erringen die Befürworter des Wechsels zum Kanton Jura zum ersten Mal die Mehrheit, mit 389 Stimmen Unterschied.

18. Juni 2017: Die Stimmberechtigten in Moutier entscheiden mit 51,7 Prozent der Stimmen, zum Kanton Jura gehören zu wollen.

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