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“E-Voting und E-Banking sind nicht vergleichbar”

Stimmformular für Evoting unter einer Computer-Maus.
Hundertprozentige Sicherheit werde es beim E-Voting nie geben, sagt Bundeskanzler Walter Thurnherr. Keystone / Martial Trezzini

Seit dem vergangenen Sommer ruht die elektronische Stimmabgabe in der Schweiz, was viele Auslandschweizerinnen und -schweizer enttäuscht. Bundeskanzler Walter Thurnherr über Stimmungsschwankungen, demokratische Prozesse und sein Motto: Sicherheit vor Tempo.

«Schweizer Revue»: Herr Thurnherr, wie halten Sie es persönlich: Verpassen Sie je einen Abstimmungstermin?

Walter Thurnherr: Ich habe, soweit ich mich erinnere, noch keinen Termin verpasst und stimme jeweils brieflich ab, weil das schnell geht und sehr praktisch ist – wenn man nicht sehbehindert ist oder im Ausland lebt.

Wenn in der Schweiz die Wahlbeteiligung um einen Drittel einbräche: Wäre das für Sie ein Grund zur Besorgnis?

W.T.: Die Wahlbeteiligung liegt schon heute unter fünfzig Prozent. Das bedeutet, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung über alles entscheidet. Ich finde schon das bedenklich.

Aber genau dies, ein markanter Rückgang, ist bei den Nationalratswahlen 2019 passiert: Die Wahlbeteiligung der im Ausland lebenden Stimmberechtigten brach zum Teil stark ein.

Nur kennen wir in diesem Fall vermutlich die Ursache: Der elektronische Stimmkanal fehlte. Das könnte man wieder ändern. Schlimmer fände ich es, wenn nicht klar wäre, warum die Stimmberechtigten das Interesse an Wahlen oder Abstimmungen verlieren.

Walter Thurnherr
Bundeskanzler Walter Thurnherr. © Keystone / Anthony Anex


Wegen des derzeit fehlenden elektronischen Stimmkanals häufen sich in der Redaktion der «Schweizer Revue» die Zuschriften enttäuschter Auslandschweizerinnen und -schweizer. Verstehen Sie diese Reaktionen?

W.T.: Ja, klar. Vor allem von jenen, die vorher Zugang zum «Vote électronique» hatten und sich daran gewöhnt hatten. Ärgerlich ist es besonders für Personen, die nur kurz im Ausland leben und später in die Schweiz zurückkehren – weil sie von dem, was entschieden wird, direkt betroffen sein werden.

Das E-Voting ruht derzeit in der Schweiz. Ist es nicht vielmehr klinisch tot?

W.T.: Ruhen heisst nicht klinisch tot. Aber auch nicht: Übermorgen sind wir soweit. Es ist noch nicht klar, wie es weitergeht. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. E-Voting-Gegner sammeln Unterschriften für eine Volksinitiative, die ein Moratorium fordert. Im Parlament sind verschiedene Vorstösse hängig. Auch wird sich zeigen, ob wir einen Betreiber haben, der ein sicheres System bereitstellt.

“Wir sagten schon damals ‘Sicherheit vor Tempo’ und erinnerten an die Autonomie der Kantone.”

Sind Sie denn optimistisch?

W.T.: Nun, ich bin Stimmungsschwankungen unterworfen. Noch vor vier Jahren wurde im Ständerat eine Motion nur knapp abgelehnt, die verlangte, dass der Bund die Kantone zwingt, bis zu den Wahlen 2019 E-Voting anzubieten. Wir sagten schon damals «Sicherheit vor Tempo» und erinnerten an die Autonomie der Kantone. Später, in der Vernehmlassung zu E-Voting, äusserten sich fast alle Kantone dafür, aber die Parteien grossmehrheitlich dagegen. 

Dann kam der Versuch der Post, ein vollständig verifizierbares E-Voting-System einzuführen. Er offenbarte mehrere schwere, zum Teil peinliche Fehler und bewog die Post, ihr System vorerst zurückzuziehen. Und es hat ein genereller Sinneswandel stattgefunden.

Inwiefern?

W.T.: Noch vor fünfzehn Jahren hiess es, das Internet ist eine sehr gute Sache für die Demokratien und schlecht für die Diktaturen. Heute sieht man es eher umgekehrt. All die erwähnten Punkte führten dazu, dass man heute sagt: Macht bloss keinen Unsinn. Aber ich bin sicher, wenn wir mal zwei, drei Kantone mit einem vollständig verifizierbaren System hätten, dann würde man sich in den Nachbarkantonen sofort fragen: Warum können die das und wir nicht? Vieles ist so entstanden in der Schweiz.

Die Signale aus Bundesbern zum E-Voting sind widersprüchlich. Einerseits haben Sie als Bundeskanzler den Auftrag, bis Ende Jahr einen neuen E-Voting-Versuchsbetrieb zu konzipieren, gemeinsam mit den Kantonen. Andererseits wächst der Druck aus dem Parlament, E-Voting aufzugeben. Von welcher Marschrichtung sollen denn nun die Schweizerin in Sydney oder der Schweizer in Ouagadougou ausgehen?

W.T.: Wenn sie gut informiert sind, wissen die Schweizerin in Sydney und der Schweizer in Ouagadougou, wie es hierzulande läuft. Die politische Schweiz ist eine einzige Konsultationsmaschine und ein grosses «Chrüsimüsi»: Mal geht es einen Schritt vorwärts, dann zwei zurück. Die Dinge brauchen Zeit. Vergessen wir nicht: Auch über die briefliche Stimmabgabe, 1994 schweizweit eingeführt, fing die Diskussion in den 1930er-Jahren an. Der Kanton Tessin führte sie für kantonale Angelegenheiten sogar erst vor wenigen Jahren ein.

Der Bundesrat verzichtete im letzten Sommer darauf, E-Voting flächendeckend einzuführen, und strebt stattdessen einen neuen Versuchsbetrieb an. Gepröbelt wird aber schon seit 2004, in mehreren Kantonen.

Beim neuen Versuchsbetrieb wollten wir einen Schritt weitergehen als bisher und ein System mit vollständiger Verifizierbarkeit testen. Das ist eine Bedingung für den breiteren Einsatz von E-Voting. Doch das entsprechende System der Schweizer Post wies Mängel auf. Im jetzt nochmals avisierten Versuchsbetrieb geht es darum, dass wir über diese Schwelle hinauskommen. Er entspricht unserer Politik, langsam, aber stetig vorwärtszumachen.

W.T.: E-Voting steht vor allem wegen Sicherheitsbedenken in der Kritik. Ist sicheres E-Voting je möglich?

Hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben. Jeder elektronische Prozess lässt sich hacken oder beschädigen. Wir bauen aber so hohe Hürden ein, dass ein Hacker unverhältnismässig grossen Aufwand betreiben müsste und dass sein Versuch nicht unbemerkt bliebe. Das Ziel ist grösstmögliche Sicherheit, ähnlich wie bei Kernkraftwerken und Flugzeugen. Wer absolute Sicherheit verlangt, darf streng genommen auch nicht mehr in ein Flugzeug steigen.

Viele Wählende in der Fünften Schweiz teilen die Sicherheitsbedenken nicht. Sie monieren, man traue ihnen E-Banking und elektronische Behördenkontakte zu, da gälten die Risiken als vertretbar.

W.T.: Das ist nicht vergleichbar. E-Banking beinhaltet einzelne Kunden-Server-Verhältnisse, beim «Vote électronique» geht es um das ganze System. Der Schaden wäre ungleich grösser. Schon nur der Verdacht, Abstimmungen könnten gehackt werden, tut der Glaubwürdigkeit des demokratischen Systems nicht gut. Darum stellen wir ans E-Voting viel höhere Sicherheitsanforderungen als an jedes andere elektronische System. Wir haben uns damit bei den Anbietern von E-Voting-Systemen keine Freunde gemacht.

“Beim ‘Vote électronique’ ist die Angst die, dass man das ganze Abstimmungsresultat verändern könnte.”

Auch beim beliebten brieflichen Abstimmen kann es zu Manipulationen kommen. Und einige Tausend abgegebene Stimmen verlieren jeweils ihre Wirkung, etwa, weil die Unterschrift fehlt.

W.T.: Der Vergleich hinkt ein wenig. Beim brieflichen Abstimmen sind vereinzelte Manipulationen möglich, aber kaum im grossen Stil. Beim «Vote électronique» ist die Angst die, dass man in den Server eindringen und das ganze Abstimmungsresultat verändern könnte. Die Kritiker fordern zu Recht, dass wir vorsichtig bleiben müssen, wenn es um unsere demokratischen Prozesse geht. Darum müssen wir erklären, was wir unternehmen, um E-Voting so sicher wie möglich zu machen.

Gäbe es andere Wege als E-Voting, um Auslandschweizern das Abstimmen und Wählen zu ermöglichen, das ihnen gesetzlich zusteht? Zum Beispiel mit dem elektronischen Versand der Unterlagen?

W.T.: Den E-Versand finde ich keine gute Idee. Er ist bestimmt weniger sicher als vollständig verifizierbares E-Voting. Und er hilft nur gerade denjenigen Auslandschweizerinnen und -schweizern, 

deren Post zu langsam ist für den Hin- und Rückweg der Unterlagen, aber schnell genug für den halben Weg. E-Voting machen wir ja nicht allein für die Auslandschweizer. 350 000 blinde und sehbehinderte Menschen in der Schweiz könnten damit endlich das Stimm- und Wahlgeheimnis für sich beanspruchen. Der E-Versand nützt ihnen nichts.

Dann lieber die Stimmabgabe auf kurzem Weg, etwa auf der Botschaft des Wohnlandes?

W.T.: Als ich in Moskau lebte, konnte ich mein Stimmcouvert dem diplomatischen Kurier übergeben. Wenn Sie allerdings in Wladiwostok oder Irkutsk daheim sind, finden Sie das keine so gute Idee, da Sie für jede Abstimmung nach Moskau fliegen müssten. Was manchmal auch vorgeschlagen wird: eine Verbindungsperson in der Schweiz zu bestimmen, die den zugeschickten Stimmzettel nach dem Willen der Stimmbürgerin, des Stimmbürgers im Ausland ausfüllt. Aber wollen die Auslandschweizerinnen und -schweizer wirklich auf das Wahlgeheimnis verzichten? Selbstverständlich sind wir offen für Verbesserungen. So haben wir die Frist, ab der die Unterlagen verschickt werden können, um eine Woche verlängert. Und Alternativen könnten aktuell werden, falls dem E-Voting in der demokratischen Ausmarchung ein Ende gesetzt werden sollte.

Kann auch ein eigener Wahlkreis für die Fünfte Schweiz eine Alternative sein?

W.T.: Dafür müssen Sie die Verfassung ändern. Es gibt 760 000 Auslandschweizerinnen und -schweizer. Sie können eine Volksinitiative lancieren, wenn Sie das wollen. Ich befürchte allerdings, dass sich damit an den postalischen Zustellungsproblemen in einigen Wohnländern nichts ändern wird.

Im Kern geht es bei der Kritik aus der Fünften Schweiz wohl weniger um den Stimmkanal als ums verletzte Gerechtigkeitsempfinden. An Wahltagen manifestiert sich, dass nicht alle Schweizerinnen und Schweizer tatsächlich die verbürgten gleichen Rechte haben.

W.T.: Ich verstehe den Frust jener, die mitbestimmen möchten, aber nicht können. Doch das Abstimmen per Brief wurde mit dem Vorbehalt eingeführt, dass es keine Garantie auf rechtzeitige Zustellung der Unterlagen gibt. Ich weiss das noch so gut, weil ich auch einmal den Auslandschweizerdienst des Aussendepartements leitete. Wenn die brasilianische Post das Stimmcouvert zu spät liefert, kann daraus kein Anspruch abgeleitet werden, dass die Abstimmung in der Schweiz wiederholt wird. Aber sonst ist die schweizerische Haltung diesbezüglich ja offen. Auslandschweizer behalten politische Rechte, auch wenn sie seit Generationen im Ausland leben. Das muss man vielleicht auch einmal sagen.

Walter Thurnherr ist seit 2016 Bundeskanzler und damit auch der oberste Verantwortliche für Wahlen und Abstimmungen. Zuvor war der gebürtige Aargauer und studierte Physiker in verschiedenen Funktionen in der Bundesverwaltung sowie im diplomatischen Dienst tätig, mit Aufenthalten in Moskau und New York.

Dieses Interview erschien erstmals in der Schweizer RevueExterner Link.Externer Link

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