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Uruguay: Die Schweiz Lateinamerikas in Sachen direkte Demokratie

Rafael Piñeiro, Politikprofessor aus Uruguay.
Rafael Piñeiro, Politikprofessor aus Uruguay. Michael von der Lohe

Uruguay ist in Sachen direkte Demokratie die Schweiz Lateinamerikas. In keinem der umliegenden Länder gibt es mehr Abstimmungen mit bindendem Charakter. Die Hintergründe dieses kleinen Demokratie-Wunders erklärt Rafael Piñeiro.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Wir sprachen mit dem Politikprofessor, der in Montevideo lehrt, im Rahmen einer Demokratie-Tagung im deutschen Wuppertal (siehe Box unten).

swissinfo.ch: Wo liegt der Ursprung der direkten Demokratie Uruguays? Sind die Voraussetzungen in einen grösseren Kontext in der lateinamerikanischen Demokratiebewegung einzureihen?

Rafael Piñeiro: Uruguay war das erste lateinamerikanische Land mit einer direkten Demokratie. Die Volksinitiative wurde 1934 verfassungsmässig institutionalisiert. Das fakultative Referendum kam 1967.

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Tatsächlich ist die direkte Demokratie Uruguays Teil einer grösseren verfassungsmässigen Entwicklung, die ganz Lateinamerika betraf. Dabei liess man sich vom “Schweizer Modell” inspirieren. Aber nicht nur in Sachen direkte Demokratie, sondern auch, was das Regierungssystem anbetrifft. 

In verschiedenen Perioden gab es sogenannte “colegiados”, die das Mehrparteien-Regierungssystem der Schweiz aufnahmen. José Batlle y Ordóñez, der von 1903 bis 1907 Präsident von Uruguay war, reiste mehrmals in die Schweiz und war tief beeindruckt vom schweizerischen System. Er trug diese Ideen zurück in sein Heimatland und löste damit Verfassungsdiskussionen aus, aus denen dann die direkte Demokratie hervorging.

swissinfo.ch: Welche Effekte hat die direkte Demokratie auf das politische System und die politische Kultur des Landes?

Rafael Piñeiro Rodríguez ist Professor an der Katholischen Universität Uruguay in Montevideo. Der 41-Jährige ist auch Vorstandsmitglied der “Latin American Political Science Association”. Er forscht über demokratischen Entwicklungen in Lateinamerika und die verschiedenen Formen von Bürgeraktivismus.

R.P.: Die direkte Demokratie führt zu einer Synchronisierung des Willens der Parteien und dem ihrer Wähler. Wenn die Politiker sich zu weit vom Wählerwillen entfernen, laufen sie die Gefahr, durch ein Referendum ausgebremst zu werden.

swissinfo.ch: In der Schweiz werden Volksinitiativen oft von Parteien oder parteinahen Akteuren lanciert. Diese verwenden sie oft als ein PR-Instrument, um die politische Agenda zu dominieren. Dies im Widerspruch zur ursprünglichen Idee, politische Minderheiten einzubinden. Wie sieht es Uruguay aus?

R.P.: Die Parteien nutzen die direkte Demokratie programmatisch, nicht strategisch. Weder linke noch rechte Parteien nutzen die direkte Demokratie für politische Stimmungsmache. Das ist in Uruguay kein Thema.

Wählerin bei den Präsidentenwahlen 2009 in einem Lokal in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays.
Stimmabgabe in Uruguay, dem Demokratie-Vorzeigeland Lateinamerikas (Präsidentenwahlen 2009). Keystone

swissinfo.ch: Wer lanciert denn Initiativen?

R.P.: Vereine, Gewerkschaften, aber auch Parteien. Doch es ist wichtig zu verstehen, dass die Parteien Initiativen nicht von sich auch lancieren. Sie tun dies, weil die Parteibasis sie dazu drängt. Wenn Parteien solche Vorstösse machen, sind sie folglich dennoch als Bürgerinitiativen von unten zu begreifen. 

“Wenn die Politiker sich zu weit vom Wählerwillen entfernen, laufen sie die Gefahr, durch ein Referendum ausgebremst zu werden.” Rafael Piñeiro

swissinfo.ch: Das Jahr 1985 markierte das Ende der Diktatur, in der zuweilen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Damit endete auch eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren uruguayischen Geschichte. Was war die Stellung der direkten Demokratie in diesem Zusammenhang?

R.P.: Sie war sehr wichtig. Das Parlament verabschiedete 1986 ein höchst umstrittenes Amnestiegesetz. Militärs, Polizisten und andere, die sich während der Diktatur schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, hätten mit dem neuen Gesetz nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden können.

Dagegen wurde das Referendum ergriffen. Das ermöglichte es den Betroffenen, zu diesem Thema in verbindlicher Weise Stellung zu nehmen. Ich glaube, das war für die politische Entwicklung und die kollektive Verarbeitung enorm wichtig. Dieses Referendum wurde 1989 an der Urne angenommen.

Direkte Demokratie ist kein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz. Es gibt sie mittlerweile rund um den Globus. Das Symposium mit dem Titel “Political culture and active citizenship” vom 9. bis 11. März 2018 in WuppertalExterner Link widmete sich der Frage, wie und wie gut direkte Demokratie in unterschiedlichen Ländern dieser Welt funktioniert.

swissinfo.ch: 20 Jahre später, im Jahr 2005, haben sich die politischen Mehrheitsverhältnisse schlagartig verändert. Die links-progressive Allianzpartei “Frente Amplio” (“Breite Front”) wurde zur stärksten Partei, der auch der amtierende Präsident Uruguays, Tabaré Vàzquez Rosas, angehört. Diese Partei spielte eine wichtige Rolle in der uruguayischen Partizipationsbewegung und nutze die direktdemokratischen Instrumente sehr aktiv. Veränderte dieser Machtwechsel auch das Verhältnis der Partei zur direkten Demokratie?

R.P.: Ja, es hat sich seither viel verändert. Vor dem Jahr 2005 war die linke Partei “Frente Amplio” eine Oppositionspartei und nutze die Volksrechte intensiv. Als sie an der Macht war, nutze sie diese zwar immer noch, aber nur noch für Anliegen, die im Parlament keine Mehrheit fanden.

Zum Beispiel eine Verfassungsreform, die es den im Ausland lebenden Staatsangehörigen ermöglicht hätte, zu wählen und abzustimmen. Das Referendum scheiterte jedoch. Die jetzigen, konservativ ausgerichteten Oppositionsparteien nutzen die Volksrechte weit weniger häufig.

swissinfo.ch: Was müsste am gegenwärtigen System verbessert werden?

R.P.: Meiner Meinung nach sind die Hürden für Volksinitiativen viel zu hoch. Es braucht 600’000 Unterschriften bei ungefähr 2’300’000 Stimmberechtigten. Das bedeutet, dass jeder vierte Stimmberechtigte das Begehren unterschreiben muss. Zehn Prozent der knapp 2,5 Millionen Stimmbürger wären angemessener.

swissinfo.ch: Welche Bedeutung wird die direkte Demokratie in der Zukunft Uruguays haben?

R.P.: Sie wird auch in Zukunft wichtig sein. Sie vermittelt den Menschen ein Gefühl, dass sie politisch etwas bewegen können. Sie merken, dass man mit der eigenen Stimme bei der Gestaltung von etwas Grossem mitwirken kann. Durch direkte Demokratie rücken das Volk und die Repräsentanten gezwungenermassen näher zueinander.​​​​​​​

Direkte Demokratie Uruguay

Das demokratische Vorbild Lateinamerikas führte seit 1917 insgesamt 28 Volksabstimmungen durch. Dabei ging es um Volksinitiativen sowie fakultative und obligatorische Referenden. Eine Auswahl (ab 1970):

1971: Einmalige Wiederwahl von Präsident und Vizepräsident (abgelehnt).

1971: Rücktrittspflicht der Präsidentin/des Präsidenten bei Gesetzeswidrigkeiten von Minister/innen (abgelehnt).

1994: 27 % des Staatshaushalts sollen für Bildung ausgegeben werden (abgelehnt).

2003: Gegen die Aufhebung des staatlichen Erdölmonopols (angenommen).

2004: Für die Wasserversorgung in Staatsbesitz (angenommen).

2009: Vollständige Aufhebung des Gesetzes über die Straffreiheit während der Militärdiktatur (abgelehnt).

2014: Senkung des Strafmündigkeitsalters auf 16 Jahre (abgelehnt).

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