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Das Dorf, das den Hochwasserschutz zweimal bachab schickte

Ein Postauto fährt an Bach vorbei
Die Uerke in ihrem schmalen Bett. Stephanie Hess

Uerkheim im Schweizer Mittelland wird immer wieder überschwemmt. Zweimal beschliessen die Bürgerinnen und Bürger Schutzmassnahmen. Und zweimal kippen sie diesen Entscheid nachträglich wieder. Dann kommt das schlimmste Hochwasser der Dorfgeschichte.

Der feine rote Strich markiert das Ausmass der Zerstörung. Gemalt an die raue Hauswand des kleinen Dorfladens zeigt er, wie hoch das Wasser der nahen Uerke im Sommer 2017 stand: 1.87 Meter über dem normalen Pegel.

Damals, im Juli, als das Flüsschen so stark anschwoll, dass das Dorf die grösste Überschwemmung seiner Geschichte erlebte.

Stumm (I)

Drinnen im Dorfladen brummt ein Gerät, das den frisch gegossenen Betonboden trocknet. Lebensmittel findet man hier keine mehr, dafür ein paar Schritte weiter, in einem weissen Baucontainer. Eine Zwischenlösung.

Die Frau, die den Laden gemeinsam mit ihrem Mann führt, schüttelt den Kopf. Sie möchte mit keiner Journalistin mehr sprechen. Zu oft hat sie in den letzten Monaten schon Auskunft geben müssen, den Zeitungen, dem Radio, dem Fernsehen. Denn was in Uerkheim passiert ist, war nicht nur ein heftiges Naturereignis. Sondern zeigt auch, wie verzwickt direkte Demokratie sein kann.

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Vorwarnung

Uerkheim, ein Dorf im Kanton Aargau mit gerade mal 1300 Einwohnern, kämpft seit vielen Jahren mit Hochwassern. 2012 wird es von einem starken Unwetter heimgesucht, das Keller überschwemmt, Autos unter Wasser setzt.

Kurz danach setzt sich die Gemeinde mit den Vertretern des kantonalen Tiefbauamts zusammen, um Massnahmen für einen Hochwasserschutz zu treffen. So sollten die flachen Betonbrücken über dem Flüsschen angehoben werden, damit sich dort Geröll und Geäst nicht mehr stauen können.

Mit knappem Mehr bewilligen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Gemeindeversammlung den dafür nötigen Kredit über 635’000 Franken. Insgesamt würde das Projekt viel mehr kosten, nämlich 2,5 Millionen Franken. Doch bei Hochwasser-Schutzmassnahmen müssen auch Kanton und Bund in die Kassen greifen. Der Bund steuert einen Drittel bei. Die anderen beiden Drittel teilen sich Kanton (60%) und Gemeinde (40%).

An der Urne gekippt (I)

Doch trotz der Kostenbeteiligungen ist das Projekt vielen Uerkheimerinnen und Uerkheimer ein Dorn im Auge, weil zu teuer. Zudem, so die Gegner, biete es nicht genügend Schutz für das ganze Dorf. Sie ergreifen das Referendum, das Geschäft kommt an die Urne – wo es deutlich bachab geht: 362 Bürger sagen Nein, nur 134 Ja. Die Stimmbeteiligung betrug 50%.

Nun machen sich die Uerkheimer Gemeindebehörden mit dem Kanton an den nächsten Vorschlag. Im Sommer 2015 präsentieren sie der Gemeindeversammlung ein neues, umfassendes Hochwasserschutz-Projekt: 40 bauliche Massnahmen wollen sie umsetzen für insgesamt 5,8 Millionen Franken. Der Beitrag der Gemeinde beliefe sich auf 1,5 Millionen Franken.

An der Urne gekippt (II)

Die Geschichte wiederholt sich: An der Versammlung gibt das Volk erneut grünes Licht. Wieder kommt es zum Referendum. Und wieder wird das Projekt an der Urne abgelehnt.

Wie konnte das geschehen? Noch Monate später herrscht Ratlosigkeit. “Ich kann es mir nicht erklären. Wahrscheinlich war das Projekt vielen zu teuer”, sagt Gemeindepräsident Markus Gabriel. Böse Zungen behaupten, die Bewohner von Uerkheim fürchten sich mehr vor einer Erhöhung der Steuern als von einer Erhöhung des Wasserpegels.

Stumm (II)

Auf der Strasse angesprochen, mag sich niemand der Dorfbewohner äussern. Auch Peter Leuenberger, der Kopf hinter den Referenden, richtet per SMS aus, dass er keine Auskunft mehr gibt.

“Ja, es war ein Frust”, blickt Markus Gabriel zurück, “aber das Volk hat entschieden. Daran können wir nicht rütteln.” Und der Gemeindepräsident fügt an: “Damals habe ich immer gesagt, dass es nicht die Frage ist, ob wieder ein Hochwasser kommen wird. Sondern wann.” Und es sollte sehr bald kommen.

80 Millionen Franken

Seit Wochen flimmert eine grosse Hitze nicht nur über dem Tal, sondern der ganzen Schweiz. Dann, am 8. Juli 2017, einem Samstagnachmittag, braut sich am Himmel, von Westen her, eine pechschwarze Wolkenfront zusammen.

Sturmartiger Regen setzt ein. Böen peitschen durchs Tal, kirschgrosse Hagelkörner donnern ie Geschosse vom Himmel. Die kleine, friedliche Uerke schwillt rasend schnell an, tritt aus ihrem Betonbett und macht die Hauptstrasse zum reissenden Fluss.

Baustelle
Eine Brücke wurde bei der Überschwemmung weggespült. Stephanie Hess

Die Uerke drückt Zäune ein, flutet Autos, reisst eine Brücke mit. Ein Leser berichtete in der Schweizer Boulevardzeitung Blick: “Ganz Uerkheim steht unter Wasser. Rund um das Gemeindehaus können keine Fahrzeuge mehr fahren.”

Personen kommen in Uerkheim glücklicherweise keine zu Schaden. Dafür Autos, Garagen, Keller und die Waschmaschinen darin, die Heizungen, all die unersetzlichen Erinnerungsstücke. Die Schäden belaufen sich hier und im ganzen Tal – es waren noch vier andere Aargauer Gemeinden betroffen – auf die horrende Summe von 80 Millionen Franken.

Eine Baustelle
Gebäude mussten abgerissen werden. Stephanie Hess

Im Dorf kennt jeder jeden. Ob Freund, Verwandte, Arbeitskollege, Nachbarin: Alle kennen jemanden, dessen Grund überschwemmt wird. Gemeindepräsident Markus Gabriel hilft seinem Vater, dessen Keller unter Wasser steht. Feuerwehr und Zivildienst stehen im Dauereinsatz.

Seinen Stellvertreter im Gemeinderat, der einen Garagenbetrieb nahe der Uerke führt, trifft es wohl am härtesten: Es geht so viel kaputt, dass dieser später zwei Gebäude abreissen lassen muss.

Urgewalt

Drei Monate später steht Markus Gabriel auf einer der Betonbrücken, friedlich rieselt die Uerke darunter vorbei. Kaum vorstellbar, wie dieses sanfte Wässerchen vor noch nicht langer Zeit so toben konnte. “Wir schätzen, dass es etwa 45 Kubik waren”, sagt der Gemeindepräsident. Das bedeutet: 45 Kubikmeter Wasser schossen durchs Dorf – pro Sekunde. Das Uerkheimer Schutzprojekt wäre auf 18 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ausgelegt gewesen.

Ein Bach
Die Uerke ist nicht immer so friedlich. Stefanie Hess

Markus Gabriel sagt: “Es hätte also ein bisschen was gebracht. Eine Überschwemmung hätten wir dennoch gehabt.” Das bestätigt auch Markus Zumsteg vom Kanton Aargau. “Das Unwetter vom 8. Juli war in der Tat viel grösser, als das Projekt 2015 ausgelegt gewesen war.”

Nach dem Hochwasser ist vor dem Hochwasser

Beim Kanton sind Experten nun daran, das Ereignis zu analysieren. Wie es entstanden ist, wie gross die Abflussmengen waren, wie es statistisch eingeordnet werden kann.

Grundlagen, die dem nächsten Schutzprojekt als Basis dienen sollen. Markus Zumsteg sagt: “Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung die Notwendigkeit eines Projekts heute – nach dem 8. Juli – anders beurteilt.”

Doch dieses Projekt wird nicht mehr von Gemeindepräsident Markus Gabriel vorgestellt und vertreten werden. Noch im Frühling hatte er angekündigt, dass er wieder zur Wahl antreten wird. Aber nach dem schlimmen Unwetter sagt er: “Ich habe keine neuen Argumente, um wieder ein neues Projekt durchzubringen.”

Ein drittes Mal mit denselben Argumenten auftreten und möglicherweise wieder scheitern, das will Gabriel nicht mehr. Die Überschwemmung hat ihren Tribut gefordert: Nach 24 Jahren im Gemeinderat tritt Markus Gabriel per Ende Jahr als Dorfoberhaupt zurück. 

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