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Wenn Wölfe und Lämmer zusammen regieren

Wolf und Lamm: In der Natur Feinde, in der Schweizer Regierung Partner.
Wolf und Lamm: In der Natur Feinde, in der Schweizer Regierung Partner. commons.wikimedia.org

Eine Regierung, in der alle grossen Parteien vertreten sind, von Sozialdemokraten bis Nationalkonservativen – wer würde sich so etwas antun? Die Schweizer! Das kleine Land kennt dieses System seit Jahrzehnten. Es ist eine direkte Folge der direkten Demokratie.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Im Mai 2017, knapp 50 Jahre nach dem “Pariser Frühling”, ereignete sich in Frankreich erneut ein grosses politisches Erdbeben: Emmanuel Macron wurde mit klarem Resultat zum französischen Präsidenten gewählt.

Macron war zwar unter Vorgänger Hollande schon mal Minister gewesen. Die Präsidentschaft aber gewann er als Kopf der neuen Bürgerbewegung En Marche!

Zwar hatte er im ersten Wahlgang lediglich 24% der Stimmen gewonnen, doch weil ihm im zweiten Durchgang nur noch Marine Le Pen vom rechtsnationalen Front National gegenüberstand, sahen viele Wähler in ihm das kleinere Übel. In Frankreich herrscht die Formel “The Winner takes it all!” – La Grande Nation ist seither ganz En Marche!

Vier Monate später wurde auch in der Schweiz die Regierung neu zusammengesetzt. Einer von sieben Sitzen im Bundesrat musste besetzt werden, nachdem Aussenminister Didier Burkhalter seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte.

Im Vergleich zum westlichen Nachbarland lief der Personalwechsel in der Eidgenossenschaft deutlich weniger spektakulär ab. Zur Wahl stand nämlich nur eine Partei.

Den Anspruch der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) auf den freigewordenen Sitz bestritt niemand, und so ging es nur noch darum, welcher der drei Kandidaten, welche die Mitte-Partei präsentierte, zum Zug kommen sollte.

Spannung bei Regierungswahlen in der Schweiz sieht anders aus. Der Grund liegt in der Konkordanz, dem seit Jahrzehnten etablierten System der Machtteilung im Bundesrat, der Exekutive. Statt dass die Macht auf eine Partei konzentriert wird wie in Frankreich, sind alle wichtigen politischen Kräfte gemäss ihrer Stärke in der Regierung vertreten.

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Konkret besetzen die drei grössten Parteien je zwei Sitze. Es sind dies die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei(SVP), die Sozialdemokraten (SP) und die FDP. Die Christdemokraten (CVP) belegen als viertgrösste Partei einen Regierungssitz.

Ominöse Zauberformel

Die Konstellation ist unter dem geheimnisvoll klingenden Begriff “Zauberformel” bekannt. Wobei die Regierungsparteien das Arrangement nicht unbedingt zauberhaft finden: In einer Konsensregierung sind selten grosse Würfe möglich, es regieren Stabilität und der kleinste gemeinsame Nenner.

Die Parteien machen bei diesem Spiel nicht aus Freude am Kompromiss mit, sondern schlicht aus strategischem Kalkül. Denn die Konkordanz ist sehr direkt mit der direkten Demokratie verknüpft.

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Das politische Gleichgewicht basiert auf einer Zauberformel

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Als 1848 die moderne Schweiz gegründet wurde, bestand die Schweizer Regierung aus Mitgliedern einer einzigen Partei. Eine zweite Partei war erst ab 1891 im Kabinett vertreten. Und es dauerte weitere 50 Jahre, bis zwei weitere Parteien Sitze erhielten. 1959 einigten sich die vier grössten Parteien darauf, die Sitze unter sich gemäss der Kräfteverhältnisse im Parlament…

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Ausweg aus der Dauerblockade

Das zeigt ein Blick auf die Geschichte. Als der schweizerische Bundesstaat 1848 gegründet wurde, bestand die Regierung nur aus einer Partei: Alle sieben Bundesräte waren liberale Freisinnige.

Ihre Arbeit war allerdings mühselig, denn das obligatorische und – ab 1874 – das fakultative Referendum erlaubte es der Opposition, die Vorlagen der liberalen Regierungspartei permanent in Volksabstimmungen zu bekämpfen.

Die Erzfeinde des Freisinns, die Katholisch-Konservativen, brachten jedes wichtigere Gesetz vors Volk und vermochten zahlreiche Vorhaben der Regierung zu blockieren, etwa die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Um die Blockade zu lösen, waren die Freisinnigen schliesslich bereit, der konservativen Opposition einen Sitz in der Regierung zu überlassen.

Linke kam als letzte ins Boot

Später erhielten die Konservativen ein zweites Mandat und auch die bäuerlich geprägte Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) – die heutige SVP – wurde mit einem Bundesrat in die Regierungsverantwortung einbezogen.

Bei den Sozialdemokraten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur wählerstärksten Partei aufstiegen, dauerte die Integration länger. Erst 1943 gewährten die bürgerlichen Parteien der Linken einen Sitz im Bundesrat.

Nach einem kurzen Ausflug in die Opposition erhielten die Sozialdemokraten 1959 schliesslich zwei Bundesratssitze – die Zauberformel war geboren. Sie hat im Prinzip bis heute Bestand, wobei die heute stärkste Partei SVP einen Sitz der CVP übernommen hat.

Einbindung der Opposition

Ein Sitz im Bundesrat bedeutet nicht, dass eine Partei sämtliche Entscheide der Regierung mittragen muss. Die Regierungsbeteiligung erlaubt ihr aber, die Politik des Bundesrats mitzugestalten, so dass sie mit dieser eher einverstanden ist.

In der Praxis stellen sich Regierungsparteien in den meisten Fällen hinter die Regierung, nehmen sich aber auch die Freiheit, in gewissen Fragen andere Positionen zu vertreten.

Im Fall der Katholisch-Konservativen war die Einbindung in die Regierungsverantwortung ein Erfolg. Ihr erster Bundesrat, der Luzerner Josef Zemp, verhalf der Verstaatlichung der Eisenbahnen – und damit der Geburt der SBB – zum Durchbruch, nachdem sich seine Partei zuvor vehement gegen die Verstaatlichung gestemmt hatte.

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Auch die Sozialdemokratie wurde durch ihren Eintritt in die Regierung zu einem gewissen Grad “gezähmt”, obschon die freisinnige Presse 1959 vor der Wahl des zweiten Sozialdemokraten in den Bundesrat gewarnt hatte. Die “Wölfe” würden nicht einfach friedlich bei den “Lämmern” weiden, wenn sie mit diesen in der Regierung sässen, hiess es.

Fragile Stabilität

Allen Zweifeln zum Trotz: Letztlich vermochten die Wölfe und Lämmer im Bundesrat sich doch zu arrangieren. In der jüngeren Vergangenheit ist die durch die Konkordanz geschaffene Stabilität allerdings fragil geworden.

Noch in den 1970er-Jahren beschlossen die vier Regierungsparteien in über der Hälfte der Abstimmungen dieselbe Parole. Heute kommt dies nur noch in Ausnahmefällen vor. Neben der SP ist es heute vor allem die SVP, die regelmässig in Opposition zum Bundesrat geht.

Die schweizerische Politik ist in den letzten Jahren polarisierter geworden. Gleichzeitig hat sich der Wettbewerb unter den Parteien verschärft. Sie stehen unter erhöhtem Druck, sich zu profilieren. Kompromisse mitzutragen, hilft da selten.

Wohin geht die Reise?

Damit ist auch die Zukunft der Konkordanz ungewiss. Zwar bekennen sich nach wie vor alle Parteien zu ihr. Zugleich sinkt aber deren Interesse an Konsenslösungen.

Das kann vor allem deshalb zum Problem werden, da in verschiedenen Bereichen wie Altersvorsorge oder Unternehmenssteuern Reformen zunehmend dringender werden. Diese in einem direktdemokratischen System zum Erfolg zu führen, wird im Zeitalter des zerfallenden Konsenses zunehmend schwierig.

Serie “Toolbox”

Die Schweiz ist eine Kombination von indirekter Demokratie direkter Demokratie. Letztere ist so stark ausgebaut wie in keinem anderen Land. Dies zeigt sich u. a. in mehr als 620 nationalen Abstimmungen – “Weltrekord”.

In einer #DearDemocracy-Serie beleuchtet Lukas Leuzinger die wichtigsten und grundlegenden Instrumente, Mechanismen und Prozesse der direkten Demokratie in der Schweiz.

Der Autor studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich. Heutet arbeitet er als Journalist und ist Mit-Betreiber des Politblogs “Napoleon’s Nightmare”.

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