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Wie Taiwan zum Labor der digitalen Demokratie wurde

Studenten besetzten 2014 das Parlament Taiwans
Blutjung, aber schon Weltspitze: Das ist Taiwan punkto Demokratie. Die Geburtsstunde war 2014, als Studierende und junge Aktivisten der Sonnenblumen-Bewegung einen Monat lang das Parlament Taiwans besetzt hatten. CommonWealth TV Taiwan (cw.com.tv)

Jeremy Corbyn, der britische Oppositionsführer, forderte kürzlich für Grossbritannien "eine digitale Deliberation nach dem Vorbild Taiwans". Corbyn hat erkannt: Nirgendwo sonst brodelt die Experimentierküche der digitalen Demokratie so sehr wie auf dieser geopolitisch umstrittenen Insel. Und vieles könnte schiefgehen.

Das Jahr 2014 war für Taiwan ein Jahr des kulturellen Wandels. Die so genannte Sonnenblumen-BewegungExterner Link veränderte das politische Klima der Insel. Aus Protest gegen ein Handelsabkommen, das Taiwans damalige Regierung mit China abschliessen wollte, formierten sich Studentinnen und Studenten zu einer landesweiten Protestbewegung. Sie gipfelte in der Besetzung des nationalen Parlaments in Taipeh.

Schwerpunkt Taiwan bei swissinfo.ch

Die taiwanesischen Journalisten Hedy Chiu (Commonwealth Magazine) und Jason Liu (The Reporter) waren im September bei uns in der SWI-Redaktion in Bern. Hier nahmen sie auch Reportagen Festival teil: An einem swissinfo.ch-Panel zur Berichterstattung in Hongkong und Taiwan stellten die beiden ihre Recherchen vor (hier das Video in englischer Sprache).

Im Oktober wird mein Kollege Patrick Böhler in Taichung, Taiwan, eine öffentliche Debatte über die journalistischen Erfahrungen der beiden Journalisten in der Schweiz führen. Die Debatte findet im Rahmen des Globalen Forums für moderne direkte Demokratie statt. Dieses geht vom 2. bis 5. Oktober in Taichung und Taipeh über die Bühne.

Wir veranstalten noch andere Events dort in Englisch, Chinesisch und Deutsch. Interessierte können sich bei Patrick (patrick.boehler@swissinfo.ch) oder mir (renat.kuenzi@swissinfo.ch) noch anmelden.

Ziel des Demokratie-Weltgipfels ist der internationale Austausch über Best Practices auf den Gebieten der Volksrechte, Bürgerbeteiligung und Weiterentwicklung der Demokratie durch die Digitalisierung. Wir werden von spannenden Diskussionen zu laufenden Demokratiedebatten berichten.

Die Demokratie-Weltkonferenz 2020, die für September in Bern in der Schweiz geplant war, wurde aufgrund der Coronakrise auf Frühling 2021 verschoben. Sie findet neu vom 28. April bis 1. Mai 2021 in der Schweizer Hauptstadt statt.

Sympathisanten aus der Bevölkerung beschützten die Besetzerinnen und Besetzer, indem sie rund um das Parlamentsgebäude einen Schutzkordon bildeten. “Ein menschlicher Schutzschild, 24 Stunden am Tag, einen Monat lang”, sagt Jason Liu, der selber Teil dieser Bewegung war. “Und alles, was drinnen geschah, wurde per Livestream nach draussen übertragen.”

Liu ist einer von zwei taiwanesischen Journalisten, die gemeinsam mit SWI Journalisten in den letzten Wochen zu Demokratie-Themen in der Schweiz berichtet haben (Box). Der 32-Jährige arbeitet für die Online-Publikation “The Reporter”. Das Aktivisten-Dasein hat er hinter sich gelassen, aber er erzählt gerne von der für ihn und seine Gesellschaft prägende Zeit.

Die “Nerds” von gov zero

Die erfolgreiche Besetzung und die davon initiierte Massenbewegung bewirkten einen fundamentalen politischen Wandel. Für viele war klar: Die Verwaltung, die Regierung müssen transparenter werden, und zwar mit neuen Formen von Open Government.

Rund 2000 Personen, viele von ihnen Studierende und Nerds aus der Szene der Software- und IT-Entwicklung, bildeten den Kern einer neuen Bewegung. Ihr Name: GØVExterner Link, ausgesprochen gov zero. Dabei ist “O” eine Ziffer – Null für Neuanfang.

Als die Opposition die Wahlen 2016 gewann und an die Macht kam, machte sie diese Bewegung zu einem Teil ihres Programms. Heute sind die Grundsätze der Civic-Tech-Aktivistinnen und Aktivisten in der Politik der Regierung Taiwans verankert. Es sind dies mehr Partizipation, mehr Inklusion, mehr Rechenschaftspflicht und vor allem mehr Transparenz.

Digitale politische Öffentlichkeit

vTaiwanExterner Link ist der Namen des wohl bekanntesten Projekts: Es ist eine digitale Plattform, auf der Menschen politische Themen, die sie bewegen, zur Debatte stellen können. Und dies, ohne vorher hohe Hürden nehmen zu müssen. JoinExterner Link ist eine zweite Plattform zur digitalen Mitwirkung der Menschen.

Wenn sich jemand über schlechte Infrastruktur oder Schulen ärgert, startet sie oder er auf vTaiwan eine e-Petition. Findet diese die Unterstützung von 5000 Personen, müssen die verantwortlichen Regierungsbehörden dazu Stellung nehmen. Es war wohl vTaiwan, das Anlass zu Corbyns Tweet war.

Fakten zu Taiwan

Die Insel nennt sich selbst Republik China und zählt rund 24 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

Die im Bürgerkrieg unterlegene Partei Kuomintang setzt sich 1949 nach Taiwan ab. Generalissimus Chiang Kai-Sheck führt die Insel bis zu seinem Tod 1975 autoritär. Das Kriegsrecht wird 1987 aufgehoben, die Demokratisierung beginnt in den 1990er-Jahren.

Die meisten Länder inkl. der Schweiz verfolgen die Ein-China-Politik, d. h. sie anerkennen nur die Volksrepublik China mit Sitz in Peking an. Taiwan wird nicht als eigenständigen Staat anerkannt, sondern als Teilstaat Chinas. Die Insel ist für die Schweiz der fünftwichtigste Exportmarkt in Asien.

Die Schweiz unterstützt die Entwicklung der Demokratie in Taiwan mit praktischem Erfahrungswissen, insbesondere über den Gebrauch von Volksrechten.

Weitere Felder der digitalen Demokratie in Taiwan: öffentliche Budgets Taipehs und anderer Millionenstädte sowie die Finanztransparenz von Lokalregierungen.

Hier sind insbesondere die Ausgaben der Lokalpolitikerinnen und -politiker für alle Bürger einsehbar. Spannend ist auch das Projekt CoFactsExterner Link, ein Bot zur Identifizierung von Fake News.

“Die Nerds und der Staat”

Eine zentrale Figur in dieser Bewegung ist Audrey TangExterner Link. Die smarte Software-Spezialistin war früh Mitglied von gov zero. Heute ist Tang die weltweit erste Ministerin für digitale Demokratie. Offiziell ist sie zwar Kabinettsmitglied “ohne Portefeuille”. In der Praxis aber ist es Tang, welche die Umsetzung der Digitalstrategie auf Regierungsebene vorantreibt. “Der Impact der Strategie der digitalen Demokratie auf den politischen Alltag ist riesig”, sagt Jason Liu.

Die Lösungen stammen aber weder vom Staat noch von privaten Unternehmen, sondern aus der Küche von gov zero: Die Civic-Hacking-Community wirkt als Inkubatorin, die Projekte zur Entwicklung von Software ausschreibt, die auf sechs Monate ausgelegt sind.

Die Entwicklerinnen und Entwickler bringen so innert Kürze Tools heraus, die strikt auf Open-Source-Programmen basieren und auch so wieder geteilt werden.

Karte mit Taiwan, China und Hong Kong
Kai Reusser / swissinfo.ch

Die Quellcodes sind also nicht Geschäftsmodell einer Privatfirma, wie etwa im Falle des inzwischen gestoppten E-Voting-Systems der schweizerischen Post.

Vielmehr können alle, die Ahnung haben, zur Verbesserung der Software beitragen. Taiwans Civic-Tech-Community, in anderen Ländern nur marginal oder gar nicht sichtbar, ist somit fundamentale demokratische Akteurin, denn die Software, welche die “Computerhirne” heute entwickeln, wird morgen von der Millionenstadt oder der Regierung benutzt.

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Digitale Gefahren am Horizont

Seit dem Machtwechsel 2016, als die eher China-kritische Präsidentin Tsai Ying-wen ins Amt gewählt wurde, hat China den Ton gegenüber Taiwan verschärft, auch mit militärischen Drohgebärden. Vor diesem Hintergrund sind die demokratischen Experimente Taiwans auch als Gegenstrategie zum übermächtigen Giganten in Peking zu sehen.

Am 11. Januar 2020 werden die Wählerinnen und Wähler der Insel ihre neuen Präsidenten und Abgeordneten wählen. Dies wird zu einem Test für diese digitalen Experimente. Haben sie tatsächlich das Leben der Wählerinnen und Wähler berührt? Konnten sie überzeugen?

Auch schlummert eine andere Gefahr: Was tun, wenn der digitale Diskurs manipuliert wird? Hedy Chiu, die mit Liu und SWI Journalistinnen im Sommer in der Schweiz berichtete, hat den offenen Markt an Bots in den sozialen Medien Taiwans dokumentiert. Wie sie am Reportagen Festival in Bern zeigte, haben sich taiwanesische Politiker im Vorfeld der Wahlen bereits eingekauft, um die Debatte in den digitalen Medien zu verfälschen.

Eine Reaktion auf solche Verfälschungen und Fake News ist seit der Sonnenblumen-Bewegung die radikale Transparenz. Als ich Jason Liu sage, dass ich von Ministerin Tang die Zusage für ein Interview erhalten habe, strahlt er.

“Dann wirst du erfahren, was totale Transparenz bedeutet: Alles, was sie als Ministerin tut, macht sie zwingend öffentlich. Das wird bei deinem Interview nicht anders sein.”

Digitale Demokratie Schweiz und Taiwan

● Die “alte”, hoch entwickelte analoge Demokratie Schweiz ist eine Hinterbänklerin punkto digitaler Demokratie.
● Die junge Demokratie Taiwan ist Spitzenreiterin in digitaler Demokratie.
● Woher dieser Unterschied?
● In der Schweiz trieben Politiker die Digitalisierung voran. Im Vordergrund waren a) der virtuelle Schalter des BundesExterner Link für Behördenkontakte von Bürgerinnen und Bürger. Fokus b) war das E-Voting. Dieses wurde im Sommer nach fast 20 Jahren Probephase vom Bund bis auf Weiteres auf Eis gelegt.
● In Taiwan kommt der Anstoss 2014 von der Sonnenblumen-Protestbewegung, also von unten. Daraus entstand eine Community von Civic Hackern. Ihre Grundsätze: mehr Partizipation, Inklusion, Rechenschaftspflicht und mehr Transparenz.
● Heute entwickeln die Software-Spezialisten Tools zur digitalen demokratischen Debatte. Die Tools, die auf Open-Source-Programmen basieren, werden anschliessend von Städten und der Regierung eingesetzt.
● #DearDemocracy wird im Rahmen der Berichterstattung über den Demokratie-Weltgipfel 2019 noch einen detaillierteren Vergleich zum Stand der digitalen Demokratie in der Schweiz und in Taiwan bringen.

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