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Abtauchen in die unbekannte Parallelwelt obdachloser Einwanderer

Anstehen und auf ein Bett und eine Dusche hoffen: Szene aus "L'Abri" von Fernand Melgar. pardo.ch

In der Schweiz übernachten jede Nacht Hunderte von Menschen im Freien. Es handelt sich in der Regel um Europäer oder Inhaber eines Schengen-Visums. Der Westschweizer Filmemacher Fernand Melgar hat sich mit seinem neuesten Dokumentarfilm "L’Abri" (Obdach), der in Locarno als Weltpremiere gezeigt wurde, in die Welt der Obdachlosen von Lausanne begeben. 

Der Bunker des Zivilschutzes am Rande von Lausanne öffnet in den Wintermonaten seine Tore kurz vor 22 Uhr. Fünf Franken kostet hier ein Bett, inklusive Dusche und warmer Mahlzeit. Und jeden Abend kommen gut hundert Personen an diesen Ort, um für einen Platz anzustehen.

Doch nicht alle werden in die Unterkunft namens “L’Abri” eingelassen. Zwar gibt es 107 Betten, doch aus Sicherheitsgründen dürfen hier maximal 50 Personen übernachten. Falls es draussen Minustemperaturen hat, werden in dieser Notschlafstelle 10 zusätzliche Personen aufgenommen.

Vor dem Eingang wird gerangelt und geschoben. Und wer draussen bleibt, hinter dem Absperrgitter, ist häufig verzweifelt. Die Obdachlosen müssen ausgewählt werden. “Aber nach welchen Kriterien?” fragt ein Polizist, der für Ordnung sorgen soll. Eine Wachperson gibt ihm die Antwort: “Erst die Alten, dann Frauen und Kinder, ausserdem Personen, die in der Stadt niedergelassen sind und eine Arbeit haben.” Doch der Polizist antwortet: “Wer bin ich denn, dass ich diese Auswahl treffen kann?”

Szenen dieser Art hat der aus Lausanne stammende Regisseur Fernand MelgarExterner Link in seiner Heimatstadt erlebt und gefilmt. Sechs Monate lang verfolgte er täglich den Kampf der Immigranten für eine Schlafstelle und ein wenig Menschenwürde. In Begleitung der Tontechnikerin Elise Shubs war er auf beiden Seiten der Absperrgitter mit der Filmkamera unterwegs, gab den Obdachlosen, aber auch dem Wachpersonal der Notschlafstelle eine Stimme.

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Arbeit, aber keine Wohnung

Die Obdachlosen kommen zum Grossteil aus Süd- und Osteuropa. Es handelt sich um Spanier, Portugiesen, Italiener oder Roma-Familien, häufig mit Kindern; aber auch junge Afrikaner oder Lateinamerikaner sind da, die mit einem in Spanien oder Italien erhaltenen Schengen-Visum unterwegs sind und die Wirtschaftskrise in diesen Ländern zuerst zu spüren bekamen.

Spezialisiert auf grosse gesellschaftspolitische Themen: Fernand Melgar. pardo.ch

Einige sind arbeitslos, andere haben einen Job gefunden, verdienen aber zu wenig, um eine Miete bezahlen zu können. In Lausanne gibt es kaum freien Wohnraum und die Mieten sind in schwindlige Höhen geschossen. Und nicht immer werden korrekte Löhne bezahlt.

Melgar verlässt mit seiner Kamera auch einmal die Notschlafstelle, um einigen der Obdachlosen zu folgen. Da sind zum Beispiel César und Rosa, die in Spanien ihr ganzes Hab und Gut verloren haben. Sie kamen in die Schweiz mit der Hoffnung, in einem Skigebiet zu arbeiten. Sie verbringen ihre Tage in einer Bibliothek, um sich vor der Kälte zu schützen und gratis Zugriff auf Internet zu haben.

Sie sind nicht die einzigen Obdachlosen in der Bibliothek. Einige Tische weiter sitzt Amadou, ein junger Afrikaner mit Schengen-Visum, der ebenfalls im Zentrum L’Abri übernachtet. Dann kommt eine Roma-Familie mit zwei kleinen Kindern, die ihre Nacht im Auto verbracht hat und tagsüber bettelte. Auf 2,90 Franken brachte sie es.

Wer keinen Platz in der Notschlafstelle findet, sucht sich ein Plätzchen auf einer Parkbank, in einem Bahnhof oder einem verlassenen Schuppen. Wer ein Auto besitzt, übernachtet schon mal im eigenen Wagen. Dabei darf man sich nicht erwischen lassen. Denn die Polizei kann eine Busse über 200 Franken verhängen. Die Verordnung der Stadt Lausanne spricht Klartext: Kein Camping, egal ob mit oder ohne Zelt.

Landesweites Problem…

Die Zustände von Lausanne sind kein Einzelfall. Zwar gibt es keine offiziellen Erhebungen zur Zahl der Obdachlosen in der Schweiz, doch gemäss einem Caritas-Bericht ist in diversen Regionen, etwa Basel oder Zürich, eine Zunahme festzustellen. 

Das Recht auf eine Wohnung

Das Recht auf eine Wohnung wird in der Schweizer Verfassung nicht explizit erwähnt.

Doch in Artikel 41 heisst es: “Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können.”

Im Gegensatz zu anderen Grundrechten wie der Meinungsfreiheit ist das Recht auf eine Wohnung vor einem Gericht nicht einklagbar.

In Genf wird die Zahl der Personen ohne festen Wohnsitz auf rund 1000 geschätzt. “Unsere Schlafstellen reichen nicht aus und bieten nur in absoluten Notsituationen eine Hilfe, die sich in der Regel auf wenige Wochen beschränkt”, sagt Camille Kunz, Kommunikationschef von Caritas Genf. Er hat häufig auf dieses Problem hingewiesen.  

“Wir bräuchten Strukturen für längerfristige Aufenthalte. Aber solche Unterkünfte lassen sich nicht auf die Schnelle finden. Dabei verschlimmert jeder Tag, den ein Mensch länger auf der Strasse lebt, seine prekäre Situation. Es wird immer schwieriger, da wieder raus zu kommen”, so Kunz.

Dabei ist das Recht auf Wohnen in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Die Schweizer Verfassung hält fest, dass sich der Bund und die kantonalen Behörden dafür einsetzen müssen, dass alle eine adäquate Unterkunft haben. Warum also werden nicht weitere Zivilschutzbunker eröffnet, statt Menschen im Freien schlafen zu lassen? Diese Frage wird von Obdachlosen in Melgars Dokumentarfilm gestellt.

Bei der Premiere von “L’AbriExterner Link“, der am Filmfestival Locarno im internationalen Wettbewerb um den Goldenen Leoparden läuft, war auch Oscar Tosato anwesend. Der Lausanner Stadtrat ist für das Departement Soziales zuständig. Er betont, dass Lausanne eine sehr offene Politik verfolge, aber dieses Problem nicht alleine lösen könne. “Wir wissen, dass es einen Mangel an günstigem Wohnraum gibt. Deswegen wollen wir neue Sozialwohnungen bauen. Ein Teil der Bevölkerung wehrt sich aber dagegen und diesem Widerstand müssen wir Rechnung tragen. Weitere Plätze für Obdachlose bereit zu stellen, ist keine langfristige Lösung, denn die Allgemeinheit muss die Kosten tragen. Zudem riskieren wir, damit weitere Migranten anzuziehen und eine Art Parallelwelt zu schaffen.”   

…. von europäischer Tragweite

Regisseur Fernand Melgar wird häufig gefragt, welche Lösungen er denn anbietet. Doch der Sohn spanischer Emigranten, der während seiner Kindheit illegal in der Schweiz lebte, entgegnet, dass er nur ein Zeuge der Zustände ist. Er will mit seinem “Kino der Unruhe” ein Fenster auf eine verborgene Realität öffnen. In diesem Film “gibt es keine guten oder schlechten Menschen, sondern einfach nur Menschen, die versuchen zusammenzuleben.”

Fernand Melgar

Fernand Melgar wurde 1961 in Marokko als Sohn spanischer Emigranten geboren. Seine Eltern waren als Gewerkschafter während der Franco-Diktatur aus Spanien ins Exil gegangen. Von dort kamen sie als Saisonarbeiter in die Schweiz. Sie holten Fernand im Alter von zwei Jahren in die Schweiz, obwohl dies illegal war.

1980 gründete er mit Freunden Le Cabaret Orwell, eine Wiege der Underground-Musikszene in der französischen Schweiz. Drei Jahre später begann er, Filme zu drehen.

Seine Dokumentarfilme über die Aufnahme und Ausschaffung von Asylbewerbern – “La Forteresse” (2008) und “Vol Special” (2012) – haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten und hitzige politische Debatten ausgelöst. Die jüngste Produktion “L’Abri” wurde am Filmfestival Locarno im internationalen Wettbewerb als Weltpremiere gezeigt. 

“Ich wollte aufzeigen, dass die Anwendung einer von den Stadtbehörden erlassenen Verordnung zu einem unvorstellbaren Entscheidungsdruck führen kann. Und das ohne die Absicht, jemanden verletzen zu wollen. Die einen dürfen rein, die anderen nicht. Dort sind die Aufsichtspersonen, aber wir könnten es selbst sein”, sagt der Regisseur.

Die Stahlgitter, welche die Betten der Notschlafstelle von der Strasse trennen, sind in der Sichtweise von Fernand Melgar auch in einem übergeordneten Sinn zu verstehen, das heisst wie die Grenze, welche die Schweiz von Europa trennt. Eine Grenze, die nach dem 9.Februar, noch etwas dichter geworden ist. “Die einen drinnen, die anderen draussen.”

In Locarno ist es Sommer und L’Abri, die Notschlafstelle von Lausanne, ist seit Monaten geschlossen. Sie wird erst wieder in der kalten Jahreszeit öffnen, während immer mehr Obdachlose unter freiem Himmel nächtigen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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