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Ein Prozess und viele Fragen

Armenien hat in der Hauptstadt Eriwan ein Denkmal für die Opfer des Völkermords erstellt. Keystone

Der türkischer Politiker Dogu Perinçek steht in Lausanne vor Gericht, weil er den Genozid am armenischen Volk geleugnet hat.

Über die Beurteilung der Massaker zwischen 1915 und 1918 streiten sich nationalistische Türken und armenische Organisationen schon lange. Auch zwischen Bern und Ankara sorgt die Genozid-Frage für diplomatische Spannungen.

“Der Völkermord an den Armeniern ist eine internationale Lüge.” Diesen Satz sagte Dogu Perinçek, Chef der Türkischen Arbeiterpartei, während einer öffentlichen Rede im Juli 2005 in Lausanne. Und es ist genau dieser Satz, für den er sich nun vor dem Bezirksgericht der Stadt Lausanne verantworten muss.

Die Aufgabe von Richter Pierre-Henri Winzap ist keineswegs einfach. Im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit (viele internationale Medien haben über den Fall berichtet) muss er entscheiden, ob Perinçek gegen die Schweizer Antirassismus-Norm verstossen hat.

Es handelt sich um Artikel 261bis des Strafgesetzbuches, den Justizminister Christoph Blocher im vergangenen Herbst bei einem Besuch in der Türkei als unvereinbar mit der Meinungsfreiheit kritisiert hatte.

“Die Gesetzgeber des Artikel 261bis wollen die Leugnung eines historischen Ereignisses mit einer rassistischen Äusserung gleichsetzen. Das ist sehr fragwürdig, denn es handelt sich um zwei verschiedene Dinge”, meint Robert Roth, Dekan der juristischen Fakultät an der Universität Genf.

Laut Roth ist die entscheidende Frage, die dieser Prozess auslöst, aber eine andere: “Kann ein Richter über die Existenz einer historischen Wahrheit verfügen?” Mit anderen Worten: Wer kann die Ereignisse der Vergangenheit genau definieren?

Massaker oder Genozid?

Die so genannte Armenier-Frage reicht an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Damals ermordeten Soldaten des Osmanischen Reichs zwischen 500’000 und 2 Millionen Armenier.

Die unterschiedlichen Interpretationen dieses Ereignisses führen bis auf den heutigen Tag zu Verstimmungen zwischen der Schweiz und der Türkei, genauso wie zwischen Ankara und der EU.

Die Mehrheit der Historiker, der Europarat und die Nationalversammlung Frankreichs sehen darin genauso wie der Schweizer Nationalrat und mehrere Kantonsparlamente einen “Genozid”. Die türkischen Behörden gehen von einem “Massaker” aus.

“Die rechtliche Frage lautet: Wann kann man von einem Genozid sprechen? Muss man die Dimension des Ereignisses oder die Absichten beurteilen? Die Genozid-Definition der UNO von 1948 lässt keine Zweifel offen: Die Intentionen sind entscheidend”, sagt Roth.

Der Definitionsunterschied zwischen Genozid und Massaker dürfte allerdings im anstehenden Prozess gegen Perinçek kaum das Urteil beeinflussen.

“Die Antirassismus-Norm gilt nicht nur für das Leugnen eines Genozids, sondern in Bezug auf jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, meint der Anwalt Francesco Bertossa, der 2001 in Bern in einem analogen Prozess die armenische Seite vertreten hatte.

Ein Gericht diskutiert Geschichte

Die Gesellschaft Schweiz-Armenien hat sich als Zivilpartei konstituiert und erwartete den Prozess voller Ungeduld. “Dann wissen wir endlich, ob die Beleidigung unseres Volkes und die Verzerrung der Geschichte in der Schweiz ein Verbrechen ist”, sagte Ko-Präsident Sarkis Shahinian.

Der Generalstaatsanwalt des Kantons Waadt, Eric Cottier, hat seinerseits in der Zeitung 24 Heures erklärt, “dass bis zum Beweis des Gegenteils der Genozid an den Armeniern als solcher zu bezeichnen ist”. Auch wenn Cottier nicht will, dass die Verhandlung im Gerichtssaal in eine historische Debatte über das tragische Ereignis ausartet, wird sich dies kaum vermeiden lassen.

Perinçek hat in der Wochenzeitschrift L’Hebdo nämlich angekündigt, er werde aufzeigen, dass “die westlichen Imperialisten und das zaristische Russland die Armenier zur Gewaltanwendung anstachelten, während sich die Türken nur verteidigt haben”.

Urteil am Freitag

Angesichts der Komplexität des Falles werden keine Prognosen über den Ausgang des Prozesses gewagt. Das Urteil soll am Freitag gefällt werden.

“Ein Freispruch wäre natürlich für die Armenier eine Katastrophe. Im Falle eines Schuldspruchs ist es möglich, dass die Anerkennung eines eingetretenen Schadens ausreicht, ohne sich danach auf die Fährte aller Genozid-Leugner begeben zu müssen”, meint Robert Roth.

Dies sieht Anwalt Bertossa ganz anders. Seiner Meinung nach wissen die Armenier ganz genau, dass die von ihnen erlittene Tragödie (im Gegensatz zum Holocaust) nichts ins allgemeine Bewusstsein der Menschen eingeflossen ist. Daher werden sie sich weiter für eine vollständige Anerkennung des Genozids einsetzen.

swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die Diskussion um den Genozid an den Armeniern hat wiederholt zu diplomatischen Spannungen zwischen der Schweiz und der Türkei geführt. So wurden offizielle Besuche plötzlich abgesagt oder der Verkauf von schweizerischen Pilatus-Flugzeugen nach Ankara eingefroren.

Im Gegensatz zum Ständerat hat der Nationalrat den Genozid an den Armeniern 2003 als solchen anerkannt, indem ein Postulat des christlich-demokratischen Parlamentariers Jean-Claude Vaudroz angenommen wurde. Der Bundesrat hat sich indes auf eine indirekte Anerkennung des Völkermords beschränkt.

Die Kantonsparlamente von Genf und Waadt haben den “Genozid” ebenfalls anerkannt (2001 und 2003).

Im Prozesses gegen einige türkische Leugner des Genozids an den Armeniern hatte das Gericht von Bern-Laupen 2001 auf Freispruch entschieden.

Nach damaliger Ansicht der Richter rechtfertigte sich eine Verurteilung wegen der fehlenden offiziellen Anerkennung des Genozids durch die Schweiz sowie des Nationalismus der Angeklagten (Opfer von staatlicher Propaganda) nicht. Das Bundesgericht als höchste Schweizer Rechtsinstanz bestätigte dieses Urteil 2002.

Im April 2005 hat die Staatsanwaltschaft Winterthur (bei Zürich) ein Verfahren gegen den türkischen Historiker Yusuf Halacoglu eröffnet, weil dieser öffentlich den Genozid am armenischen Volk bestreitet.

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