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Eine Stimme für die Gefühle der Menschen

Hat null Facebook-Profil und twittert auch nicht, sondern betreibt old-school-mässig seine Webseite: Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger traut den neuen Medien überraschend viel zu. Keystone

Nach den Anschlägen vom 11.9.2001 in den USA kam es auch in der Schweiz zu ausserordentlichen Katastrophen und Ereignissen: Attentat in Zug, Grounding der Swissair, Brand im Gotthard-Tunnel. Interview mit dem damaligen Bundespräsidenten Moritz Leuenberger.

swissinfo.ch: Sie waren im Herbst 2001 Bundespräsident der Schweiz. Wie haben Sie die Vielzahl tragischer Ereignisse erlebt?

Moritz Leuenberger: Es war für mich als Bundespräsident eine grosse politische Herausforderung, die ich auch annehmen wollte. Jedes einzelne Unglück und erst recht die Kumulation der Unfälle hat viele Leute sprach- und hilflos gemacht.

In einer solchen Situation wird, auch in einer direkten Demokratie wie der Schweiz, vom Bundespräsidenten symbolische Präsenz erwartet, welche die Gefühle der Menschen stellvertretend zum Ausdruck bringt.

swissinfo.ch: Sie mussten also wie ein tröstender Vater wirken?

M.L.: Das mag paternalistisch klingen, aber es ist so. Die Leute haben starke Gefühle, können sie jedoch nicht in Worte fassen und möchten, dass dies jemand für sie tut. Und dazu braucht es eine Repräsentationsfigur.

swissinfo.ch: Dachten Sie damals, das kann doch alles nicht wahr sein?

M.L.: Die Bilder von New York haben ja wirklich Zweifel geweckt. Sie erschienen wie Science Fiction. Und die Kumulation der Ereignisse danach führte schliesslich dazu, dass ich öffentlich die Frage stellte: “Hört denn dies nie auf?”

Dies wurde mir von einem Teil der Medien als unprofessionell angekreidet. Aber viele Menschen dachten genauso und waren deshalb froh um diesen Seufzer.  

swissinfo.ch: Gab es unter den vielen schrecklichen Ereignissen eines, das Ihnen besonders nahe ging?

M.L.: Das Attentat von Zug ging mir persönlich am nächsten. Ich war am Ort des Geschehens, als die Böden noch blutdurchtränkt waren. Die Leichen lagen nebenan, es waren Parlamentarier, die ich zum Teil kannte. Es war ein Angriff auf unsere parlamentarische direkte Demokratie.

swissinfo.ch: Die Toten von Zug trafen Sie mehr als die Tausenden Toten in den USA?

M.L.: Ich glaube, das ist eine ganz menschliche Reaktion. Ein Unglück in unmittelbarer Nähe mit Bekannten betrifft einen stärker als ein Unglück auf der anderen Seite des Ozeans. Damit werden die Freunde in den USA nicht desavouiert. 

swissinfo.ch: Welche Folgen hatte das Attentat von Zug für die Schweiz? Hat es die Schweiz verändert?

M.L.: Der Regierungsrat des Kantons hat den Täter und seine Beweggründe analysiert, um das Risiko einer Wiederholung zu verringern. Als Konsequenz wurde etwa die Stelle eines Ombudsmanns für unzufriedene Bürger eingeführt. Da wurde versucht, Verantwortung zu übernehmen.

Es gab auch handfestere Folgen im Bereich der Sicherheit: Etliche Kantone und auch der Bund haben die Sicherheitsvorschriften für den Zugang zu ihren Parlamentsgebäuden verschärft.  

swissinfo.ch: Beim Bund dauerte es aber sehr lange.

M.L.: Beim Bund mahlen die Mühlen immer besonders langsam. Es dauerte in der Tat zwei Jahre. Und interessant ist, dass die Massnahme dann schon wieder umstritten war. Es gab eine knappe Mehrheitsabstimmung im Bundesrat zur Frage, ob die Sicherheitsbestimmungen zu verschärfen wären.

Das zeigt: Je weiter die zeitliche Distanz ist, desto unschärfer wird das Sicherheitsbewusstsein, auch auf höchster politischer Stufe.

swissinfo.ch: Kommen wir zum Swissair-Grounding. Da gab es keine Opfer, aber es löste eine Art helvetisches Trauma aus.

M.L.: Das ist richtig, aber es stört mich, dass man in Rückblicken auf den Herbst 2001 das Swissair-Grounding in die Reihe der menschlichen Katastrophen einbettet. Die Swissair-Geschichte war etwas völlig anderes. Ich bin diese damals auch viel distanzierter angegangen. Ich war der Meinung, dass der Bund der Swissair nicht unter die Arme greifen sollte.

Im Moment des Groundings habe ich dann aber meine Meinung geändert. Ich realisierte zu diesem Zeitpunkt, was der Konkurs der Swissair für Arbeitsplätze gekostet hätte, und zwar auch für andere Firmen, die Swissair zulieferten. Manchmal öffnet uns erst die Realität die Augen und straft unsere ideologischen Vorstellungen.

swissinfo.ch: Es folgten der Unfall im Gotthard-Strassentunnel und der Flugzeug-Absturz in Bassersdorf. Diese Unfälle fielen auch in Ihren Zuständigkeitsbereich als Departementschef. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

M.L.: Beim Gotthard-Unfall handelte es sich um ein Risiko, das wir alle in Kauf genommen haben und weiterhin in Kauf nehmen. Das sollen wir doch mal ganz schonungslos sagen. Die Folgen eines solchen Unfalls wurden ja wiederholt geprobt. Das Rettungsteam hat denn auch alles sehr professionell bewältigt, weil es auf einen solchen Fall vorbereitet war.

Ein Flugzeugabsturz wie bei der Crossair gehört auch zum Risiko unserer Mobilität. Dort wurden Fehler gemacht, auch wenn es zu Freisprüchen vor Gericht kam. Es steht mir nicht an, darüber zu urteilen, aber es bleiben etwa Vorwürfe zur Auswahl des Piloten im Raum.

swissinfo.ch: Die Unfälle als Bestandteil einer Risikogesellschaft. Glauben Sie, dass sich auch eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Ereignissen herstellen lässt?

M.L.: Ich habe damals jedenfalls thematisiert, ob zwischen 9/11 und dem Attentat von Zug nicht ein Zusammenhang besteht. Vielleicht haben die stets repetierten Filmaufnahmen von den Türmen und diesen Menschen, die aus den Türmen springen, bei einem kranken Mann wie dem Attentäter von Zug eine Hemmschwelle fallen lassen. Der Mann war ein unzufriedener Anhänger der politische Rechten.

Trotzdem bin ich der Versuchung nicht erlegen, eine Verbindung zur aggressiven Politik einer populistischen Partei herzustellen. Das wäre zu billig gewesen. Trotzdem müssen wir uns nicht scheuen, diese Diskussion zu führen.

Es ist klar, dass das gerade erfolgte Attentat von Norwegen die Erinnerung an Zug geweckt hat. Dort wird diese Diskussion jetzt ja auch geführt.  

swissinfo.ch: Es heisst häufig, Unglücke helfen auch, eine Gesellschaft zusammen zu schweissen. Konnten Sie dieses Phänomen feststellen?

M.L.: Eindeutig, insbesondere im Fall von Zug. Ich habe diese Entschlossenheit festgestellt, als ich die überlebenden Opfer besuchte. Der Wille, zusammenhalten zu wollen, ging aber durchs ganze Land.

swissinfo.ch: Sie mussten damals viele Trauerreden halten. Wie schwierig war es, die richtigen Worte zu finden?

M.L.: Solche Worte müssen professionell vorbereitet sein. Man kann nicht einfach aus dem Bauch reden, so hoch die Gefühle wallen mögen. Als ich nach Zug zum Attentatsort fuhr, habe ich zum Beispiel mit einem persönlichen Freund telefoniert, der Psychiater ist, und mich mit ihm besprochen. Betroffenheit und Mitgefühl alleine reichen nicht.

swissinfo.ch: Unglücke, Katastrophen und aufwühlende Ereignisse bestimmen die Welt auch 10 Jahre nach 2001. Man denke dieses Jahr nur an Tsunami, Fukushima, die politischen Aufstände mit unzähligen Toten in den Maghreb-Staaten oder die Hungersnot in Afrika. Viele Menschen wollen gar keine Nachrichten mehr hören oder verdrängen diese Ereignisse. Haben Sie dafür Verständnis?

M.L.: Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen Menschen, welche die Dinge aus ihrer Perspektive als potentielle Opfer verfolgen, und den politisch Verantwortlichen. Wer glücklich leben will, kann nicht ständig an eine Katastrophe denken, sonst wird er neurotisch.

Ich verstehe, wenn Menschen im Falle eines Unglücks betroffen sind, dann aber auch wieder Abstand nehmen. Bei den politisch Verantwortlichen ist es aber anders. Sie müssen Konsequenzen ziehen. So, wie ich es vorhin am Beispiel des Sicherheitsdispositivs im Bundeshaus ausgeführt habe. Politiker dürfen Risiken nicht verdrängen, sondern müssen sie systematisch eliminieren.

11.9.: In den USA richten Selbstmord-Attentäter mit drei Flugzeugen ein Blutbad und Chaos an: Etwa 3000 Menschen kommen in New York und Washington sowie beim Absturz eines vierten gekaperten Flugzeugs ums Leben.

27.9.: Im Kantonsparlament von Zug erschiesst ein Amokläufer 14 Personen und richtet sich danach selber.

2.10.: Die Flugzeuge der nationalen Fluggesellschaft Swissair bleiben wegen Insolvenz überall auf der Welt am Boden (Grounding).

24.10.: Nach dem Zusammenstoss zweier Lastwagen im Gotthard-Strassentunnel kommt es zu einem Brand. 11 Menschen sterben.

24.11.: Beim Absturz eines Crossair-Flugzeugs auf dem Weg von Berlin nach Zürich kommen bei Bassersdorf in Flughafennähe 24 von 33 Passagieren und Crewmitgliedern ums Leben.

Moritz Leuenberger (65) war von 1995 bis 2010 Mitglied der Schweizer Regierung.

Als Bundesrat stand er dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) vor.

Er amtierte 2001 und 2006 als Bundespräsident.

Leuenberger gehört der Sozialdemokratischen Partei (SP) an.

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