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Warum hilft die Schweiz bei Reformen in der Ukraine?

Ukraine: “Drohungen schaffen keine Kooperationsbasis”

Er könnte sich eine "Wiedervereinigung der Krim mit Russland durchaus vorstellen, wenn....". sagt Andreas Kellerhals, Direktor des Europa Instituts Zürich. swissinfo.ch

Die Ukraine-Krise gefährdet den Frieden in Europa. Die Schweiz, die dieses Jahr die OSZE präsidiert, müsse dort eine deutliche Sprache sprechen, wo es um die Verletzung des internationalen Rechts geht. Das sagt Andreas Kellerhals, Direktor des Europainstituts der Uni Zürich im Gespräch mit swissinfo.ch.


Die EU hat ihre Sanktionen gegen Russland Anfang August ausgeweitet. Moskau versucht, eine “angemessene” Antwort darauf zu geben, und rüstet sich für einen Importstopp westlicher Lebensmittel.

Steht der Westen vor einem neuen “Kalten Krieg” mit Russland? Andreas Kellerhals, Rechtswissenschaftler und Direktor des Europainstituts der Universität Zürich, rechnet nicht damit. In dieser Krise gehe es um die Neuausrichtung der Machtverhältnisse im Osten Europas. Russland habe Mühe zu akzeptieren, dass es nicht mehr die gleiche Grossmacht-Funktion habe wie früher.

Das Bedauern der russischen Botschaft

Der russische Botschafter bedauert die Schweizer Massnahmen, die sich auf die Russland-Sanktionen der EU und der USA beziehen. Er nehme aber zur Kenntnis, “dass die Schweizer Regierung vorsichtig vorgeht und nicht eilfertig Beschlüsse der EU und der USA übernimmt”, sagt Alexander Golovin in einem Zeitungsinterview.

Russland stelle fest, dass die Schweiz ihre restriktiven Massnahmen gegen Russland verschärft habe, sagte der Botschafter in der Schweiz im am Donnerstag in der “Aargauer Zeitung” und der “Südostschweiz” veröffentlichten Interview. Das sei zu bedauern. Russland erwarte, dass diese bald aufgehoben würden.

Den Unterschied zwischen Sanktionen und den Massnahmen, die eine Umgehung via Schweiz verhindern sollen, verstehe er “sehr wohl”. Er sehe aber auch, dass mehrere bilaterale Treffen abgesagt und Waffenexporte nach Russland verboten worden seien.

Nach der Verschärfung der Sanktionen der USA und der Europäischen Union gegen Russland als Reaktion auf die Ukraine-Krise hatte am Dienstag auch die Schweiz ihre Massnahmen ausgeweitet. Sie verbietet Finanzgesellschaften, mit weiteren 26 Personen und 18 Unternehmen neue Geschäftsbeziehungen einzugehen. Der Bundesrat will damit verhindern, dass die Sanktionen via Schweiz umgangen werden.

swissinfo.ch: Sind die von der EU gegen Russland beschlossene dritte Stufe der Sanktionen sowie die russische Reaktion darauf ein Zeichen, dass der Westen vor einem neuen “Kalten Krieg” mit Russland steht?

Andreas Kellerhals: Nein, das glaube ich nicht. Aber wer an die westeuropäischen Prinzipien glaubt, konnte die Annektierung der Krim durch Russland nicht einfach hinnehmen. Diese Aktion ist gemäss internationalem Recht nicht legal verlaufen. Und das Referendum über die Zugehörigkeit der Krim entsprach nicht den internationalen Anforderungen. Es wurde hastig und unter Ausschluss unabhängiger Beobachter durchgeführt.

Ich könnte mir eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland durchaus vorstellen, zumal dort die grosse Mehrheit der Bevölkerung russischer Abstammung ist. Aber das müsste unter einem rechtstaatlich fairen Prozedere stattfinden. Vielleicht wäre genau dies Teil einer Lösung des Problems, dass alle Beteiligten die Möglichkeit hätten, an der Neuordnung Europas zu arbeiten, anstatt vor Tatsachen gestellt zu werden.

Im Unterschied zum “Kalten Krieg” haben wir keine ideologischen Differenzen mehr. Die Marktwirtschaft – wie auch immer sie verstanden wird – hat sich fast überall durchgesetzt. Aber es geht um Macht-Fragen. Russland hat Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass es nicht mehr die gleiche Grossmacht-Funktion hat wie früher.

Mit ihren Drohungen und Druckmitteln schadet sich die russische Regierung letztlich selber. Warum versucht Russland nicht, seine Nachbarn durch freundschaftliche Hilfe für sich zu gewinnen, anstatt mit Drohungen? Damit schafft man keine gute Basis für eine Kooperation.

swissinfo.ch: Bundesrat Johann Schneider-Ammann sagte auf eine Frage zur Position der Schweiz in dieser Krise: ‘Wir sanktionieren nicht eins zu eins mit. Aber wir stellen sicher, und das ist das Entscheidende, dass die Schweiz nicht als Umgehungsplattform benutzt werden kann.’ Wie beurteilen Sie eine solche Lesart angesichts der Tatsache, dass sogar in Deutschland jene Stimmen lauter werden, die von der Schweiz verlangen, dass sie sich den internationalen Sanktionen anschliesse?

A.K.: Für die Schweiz besteht keine Pflicht, sich anzuschliessen. Ich finde richtig, dass die Schweiz nicht von den Sanktionen profitieren will. Wir müssen unsere Position unabhängig von der Europäischen Union definieren. Und wir müssen uns, losgelöst von wirtschaftlichen Interessen und vom Jubiläumsjahr, fragen, ob wir diesen Schritt, den Russland mit der Annektierung der Krim vorgenommen hat, tolerieren können, und wenn nicht, wie wir darauf reagieren.

Man kann sich fragen, ob diese Position, ‘wir wollen nicht von Sanktionen profitieren’, nicht etwas zu schwach ist? Die Schweiz ist ein Depositarstaat der Genfer Konventionen. Wenn sie für die Einhaltung des internationalen Rechts steht, sollte sie eine deutlichere Sprache sprechen. Nicht, weil es die EU macht, oder die Amerikaner, sondern weil sie der Überzeugung ist, das die Annektierung nicht richtig ist.

swissinfo.ch: Manche Beobachter sagen, der Konflikt im Osten der Ukraine sei kein Krieg zwischen Russen und Ukrainern, sondern ein Stellvertreterkrieg zwischen den Sowjetnostalgikern und Verteidigern der westlichen demokratischen Werte. Stimmt das?

A.K.: Ich glaube, dass verschiedene Gruppen und Interessen involviert sind. Man erkennt einerseits zum Beispiel, dass die Separatisten-Führer nicht alle aus der Ukraine kommen. Einige wünschen sich, dass Russland wieder an Grösse und Stärke gewinnt, was ein Stück weit legitim ist.

Andererseits höre ich zum Beispiel von russisch-stämmigen Ukrainern, dass sie sich zwar durchaus ukrainisch fühlen und nicht zu Russland gehören wollen, sondern als Russen in der Ukraine leben wollen. Im Rahmen der Maidan-Revolution wurden auch grosse Fehler gemacht, weil versucht wurde, die Russen zu einer Gruppe ‘zweiter Klasse’ zu machen. Das darf man nicht tun. Im Gegenteil, man müsste die Russen noch besser behandeln, als die Ukrainer, so unwahrscheinlich das auch tönt heute. Man müsste ihnen sagen, bleibt bei uns, ihr seid hier geachtet.

swissinfo.ch: Hat Putin noch eine Chance, diese Krise ohne Gesichtsverlust zu meistern, oder ist der Weg für ihn aus dieser misslichen Lage spätestens nach dem Abschuss der Boeing-Maschine der Malaysia Airlines für immer verbaut?

A.K.: Er hat es sich selbst nicht einfach gemacht. Dass die sogenannten prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine – entgegen den Beteuerungen der russischen Regierung – Unterstützung aus Russland erhalten, ist offensichtlich. Sie hätten nie die erforderliche Logistik gehabt.

Der Abschuss des Flugzeugs hätte dem russischen Präsidenten die Gelegenheit gegeben zu sagen, jetzt geht es zu weit. Aber er hat diese Chance nicht genutzt.

Und jetzt? Die ukrainischen Truppen rücken vor, und wenn Russland nicht eingreift, werden die Grossstädte dort (Luhansk und Donezk — Anm. der Red.) früher oder später fallen. Dann wird Putin als Verlierer dastehen.

Wird er deshalb noch mehr Einfluss nehmen auf die Lage in den umkämpften Gebieten? Das wäre gefährlich. Er könnte versuchen, aus seiner noch nicht ganz schwachen Position heraus eine Friedenslösung zu erreichen. Aber ich glaube nicht, dass er sich jetzt darüber Gedanken macht. Deswegen wäre dies die Rolle der OSZE. Diese Organisation sollte jetzt im Rahmen einer Konferenz die Ukraine dazu veranlassen, auch Schritte zu machen, zum Beispiel Russisch als eine offizielle Sprache anzuerkennen.

Die Idee der Föderalisierung ist meiner Ansicht nach keine gute Idee, denn dadurch würde dort der Einfluss Russlands nur noch stärker. Aber die Ukraine müsste der russischen Bevölkerung entgegenkommen.

Die Schweiz lebt gut mit ihren Minderheiten, weil sie diese immer etwas besser behandelt, als sie arithmetisch das Anrecht hätten.

Eine ähnliche Lösung – der Minderheit im ukrainischen Staat mehr Autonomie zu geben und deren kulturelle Eigenarten zu fördern – könnte ein Ausweg aus dem Dilemma sein. Dann könnte Putin sagen, seht her, ich habe etwas erreicht für unsere Russen. 


Andreas Kellerhals

1978 – 1984: Studium der Rechtswissenschaften an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern;

1986 – 1988: Praktikum und Erwerb des Solothurnischen Fürsprech- und Notariatspatents;

1990 – 1991: Studium an der Tulane University, School of Law, New Orleans, LA, USA with specialization in international trade law and finance (with distinction);

1992: Promotion zum Science Juris Doctor an der Tulane University, School of Law;

2004: Habilitierung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich (Wirtschaftsrecht und europäische Integration);

Seit 2006: Titularprofessor für Wirtschaftsrecht, Europarecht und Privatrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich;

1987 – 1989: Juristischer Sekretär des Justiz-Departements des Kantons Solothurn;

1989 – 1990: Juristischer Sekretär einer Fraktion der Bundesversammlung, Bern;

1991 – 1992: Rechtsanwalt in der Anwaltskanzlei “Reber, Niedermann & Hagmann”, Zürich;

Seit 1992 Direktor des Europa Instituts an der Universität Zürich;

Seit 1994 tätig als Rechtsanwalt (“Kellerhals & Kellerhals”, Olten).

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