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Für ein offenes, unverkrampftes Verhältnis

Botschafter Michael Reiterer zu Besuch bei swissinfo. swissinfo.ch

Seit gut einem Jahr vertritt Botschafter Michael Reiterer die Interessen der Europäischen Union in Bern. Sein Ziel: das gegenseitige Verständnis fördern und das Verhältnis Schweiz–EU entkrampfen.

Im Gespräch mit swissinfo nimmt Reiterer Stellung zum Steuerstreit, zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit und sagt, was er als EU-Botschafter erreichen möchte.

swissinfo: Seien Sie bitte für einmal nicht diplomatisch: Was geht Ihnen in der Schweiz auf die Nerven?

M. R. Auf die Gefahr hin, dass Sie sagen, ich sei diplomatisch: Richtig auf die Nerven geht mir eigentlich nichts. Professionell gesprochen ist es aber schwierig, gewisse Botschaften zur Europäischen Union hinüberzubringen, weil man sie einfach nicht hören will.

Was ich damit meine: Die EU wird noch immer nur als wirtschaftliches Gebilde wahrgenommen. Dass es noch viele andere Bereiche gibt, nimmt eigentlich niemand zur Kenntnis.

Ausserdem gefällt sich die Schweiz ein bisschen darin, sehr traditionelle Massstäbe anzusetzen: Sie habe die direkte Demokratie erfunden, die gäbe es in der EU nicht. Schlussfolgerung: Die EU ist nicht demokratisch. Dagegen anzukommen, ist schwierig.

swissinfo: Könnte der Steuerskandal, der derzeit Deutschland und Liechtenstein erschüttert, die EU veranlassen, auch die Schweiz unter die Lupe zu nehmen?

M. R. Man muss das differenziert sehen. Die Situation der Schweiz und Liechtensteins ist nicht wirklich vergleichbar. Die EU verhandelt mit dem Fürstentum derzeit ein Abkommen zur Bekämpfung des Betrugs, da machen wir gute Fortschritte.

Mit der Schweiz haben wir das bereits gemacht. Das heisst, die Schweiz hat hier schon wichtige Schritte getan.

Man darf auch nicht alles unter die Steuerrubrik einreihen: Wir führen mit der Schweiz – und das ist auch immer wieder schwierig hinüberzubringen – keine Steuer-, sondern eine Beihilfendiskussion.

Sie dürfen nicht vergessen, dass innerhalb der EU Steuerfragen nationale Angelegenheiten sind.

Wir haben kein europäisches Steuersystem, sondern 27 verschiedene und wir haben Steuerwettbewerb auch innerhalb der EU. Das Mandat, das die Kommission bekommen hat, betrifft Wettbewerbsfragen im Sinne des Beihilfenrechts. Das ist unsere Zuständigkeit.

swissinfo: Bei der Personenfreizügigkeit stehen wichtige Diskussionen an: Die Erweiterung auf Rumänien und Bulgarien und die Weiterführung des freien Personenverkehrs nach 2008. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass die Schweiz nein sagen könnte?

M. R. Ich denke, die Personenfreizügigkeit war und ist im Interesse der Schweiz. Alle, die davon überzeugt sind, werden sich dafür einsetzen müssen, dass das Thema nicht gekidnappt und für populistische Zwecke missbraucht wird.

Die Schweizer Wirtschaft hat durch die Personenfreizügigkeit die Möglichkeit, die Arbeitskräfte zu holen, die sie braucht. Das hat auch dazu beigetragen, dass sich die Wirtschaft seit 2000 sehr gut entwickelt hat.

Als die Bilateralen I verhandelt wurden, war die Personenfreizügigkeit ein so wichtiges Thema, dass wir gemeinsam vereinbart haben, dass, wenn sie fallen sollten, die ganzen Bilateralen I fallen. Das ist keine Drohung, sondern geltendes Recht. Sollte es 2009 zu einer Abstimmung über die Fortführung der Personenfreizügigkeit kommen, habe ich Vertrauen in das Schweizer Volk.

Was die Erweiterung auf Rumänien und Bulgarien betrifft, ist es wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass die EU heute 27 Mitglieder hat. Man kann nicht einen Staat anders behandeln als den anderen. Natürlich gibt es Übergangsfristen. Und da haben wir sogar den Vorschlag der Schweiz übernommen und nicht unseren ursprünglichen. Aber bitte: Die Personenfreizügigkeit gilt dann für alle 27 Staaten.

swissinfo: Sie sagten einmal, Ihnen fehle eine Diskussion über das zukünftige Verhältnis Schweiz – EU. Was ist ihre Vision?

M.R. Die Schweiz muss selbst nachdenken. Ich rege immer gerne die Diskussion darüber an, wie sich die Schweiz ihre Rolle ausserhalb der EU, aber in Europa vorstellt – man kann ja viel ändern, bloss nicht die geografische Lage.

Ein Staat wie die Schweiz, der zu Recht Stolz ist auf seine demokratische Tradition (und Demokratie heisst ja Mitbestimmen und Mitmachen), kann und muss sich von Zeit zu Zeit die Frage stellen, ob die Tatsache, nicht mit am Verhandlungstisch zu sitzen, tatsächlich einen Nutzen bringt. Die Situation sollte in regelmässigen Abständen und ohne Scheuklappen neu bewertet werden.

swissinfo: Wie könnte man eine solche Diskussion anstossen?

M.R. Wichtig ist eine breite Diskussion. Man sollte kein politisches Thema, egal welches, einzig einer Partei oder Gruppierung überlassen. Und man sollte die Diskussion auch losgelöst von der Frage führen: “Will ich morgen Mitglied werden?” Die Schweiz hat es rein wirtschaftlich nicht nötig, Mitglied zu sein.

Dies ganz im Gegensatz zu anderen Staaten. Schauen Sie sich bloss die Länder in Mittel- und Osteuropa an: Die haben, um von der EU aufgenommen zu werden, innerhalb von 15 Jahren eine Totalrevision gemacht. Keine der alten Demokratien wäre dazu in der Lage gewesen.

swissinfo: Was möchten Sie als EU-Botschafter in der Schweiz erreicht haben, wenn sie wieder einmal weiterziehen?

M. K. Also, ich kann die Schweiz beruhigen: ich werde ganz sicher weiterziehen.

Es würde mich freuen, zu erreichen, dass das Verhältnis EU-Schweiz offener, weniger emotional diskutiert wird, und dass es gelingt, es auf Schweizer Massstäbe und Verhältnisse herunterzubrechen.

Ich glaube, es braucht ein entspannteres, offeneres Verhältnis. Und man sollte verstehen, dass wir in unseren Beziehungen viel breiter aufgestellt sind. Das heisst: wenn es im Wirtschaftsbereich ein kleines Problem gibt, sollte man nicht zum falschen Schluss kommen, dass das ganze Haus in Flammen steht. Wenn es zu dieser Entkrampfung kommt und zu einer besseren gegenseitigen Einschätzung der Rollen und Wertigkeiten, dann glaube ich, einen kleinen Beitrag geleistet zu haben.

swissinfo-Interview: Christian Schmid

Der 54-jährige Österreicher ist seit Anfang 2007 EU-Botschafter in der Schweiz. Offiziell wurde die Vertretung der Europäischen Union am 3. April 2007 in Bern eröffnet.

Zuvor war Reiterer stellvertretender Leiter der EU-Delegation in Tokyo.

Reiterer ist Jurist. 1985 erwarb er in Genf ein Diplom für internationale Beziehungen.

Er ist verheiratet und Vater einer 18-jährigen Tochter.

Die sieben bilateralen Abkommen I von 1999 regeln eine gegenseitige Öffnung der Märkte in bestimmten Bereichen: Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Luft- und Landverkehr. Zudem wird die Teilnahme der Schweiz an den Forschungsprogrammen der EU ermöglicht.

Die bilateralen Abkommen II (2004) umfassen zusätzliche wirtschaftliche Interessen und dehnen die Zusammenarbeit auf weitere Bereiche aus wie innere Sicherheit (Schengen/Dublin), Asyl, Umwelt oder Kultur. Bestandteil ist auch die Zinsbesteuerung.

Das Abkommen über den freien Personenverkehr mit den 15 “alten” EU-Staaten ist seit dem 1. Juni 2002 in Kraft. Im September 2005 hat das Schweizer Stimmvolk einer Ausdehnung auf die zehn Länder zugestimmt, die im Mai 2004 zur EU gestossen sind. (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern).

In Verhandlung ist derzeit die Ausdehnung auf die letzten neuen EU-Mitglieder, Rumänien und Bulgarien. Die rechtsnationale SVP hat bereits angedroht, dagegen das Referendum zu ergreifen.

Der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist auf Ende 2008 befristet. Seitens der EU wird das Abkommen stillschweigend verlängert, in der Schweiz ist die Fortführung dem fakultativen Referendum unterstellt.

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