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Fukushimas Niederschlag auf die Schweizer Politik

"Grünliberales" Anstossen auf Sitzgewinne nach den Wahlen in Luzern. Keystone

Einen Monat nach der Atomkatastrophe in Japan hat der "Fukushima-Effekt" auf die politischen Parteien der Schweiz nachgelassen. Laut Politologe Georg Lutz wird der Atomunfall den Wahlkampf vor den nationalen Wahlen vom Oktober jedoch verändern.

Die Grünliberalen gehören bei den jüngsten Parlamentswahlen in mehreren Kantonen zu den grossen Gewinnern. Zur Zeit hält die Grünliberale Partei der Schweiz im eidgenössischen Parlament fünf Sitze. Bei den Wahlen vom Herbst dürfte sie gut abschneiden, möglicherweise auf Kosten der traditionellen Mitteparteien, der Freisinnigen und der Christlichdemokraten.

Die Schweizer Regierung hat nach dem Unfall in Fukushima eine vorzeitige Sicherheitsprüfung bei allen fünf Atomkraftwerken angeordnet und das Verfahren für den Bau neuer Nuklearanlagen sistiert.

Der Bundesrat hofft, bis im Juni die Lage neu beurteilen zu können. Das Parlament dürfte die Atomdebatte in der kommenden Sommersession führen.

swissinfo.ch: Inwieweit hat sich der atomare Unfall in Japan auf die Parteienpolitik in der Schweiz ausgewirkt?

 

Georg Lutz: Das ist ganz unterschiedlich. Die traditionelle Grüne Partei der Schweiz hat keine grösseren Gewinne verbuchen können. Die Grünliberalen hingegen konnten in gewissen Kantonen kräftig zulegen. Mit anderen Worten: Es gibt keine allgemeine Verschiebung nach links, jedoch im Zentrum des politischen Spektrums.

Die Wahlbeteiligung war bei den meisten der jüngsten Wahlen unterdurchschnittlich, was nicht unüblich ist, da sie in den Augen vieler Bürger als wenig interessant gelten.

Die Wahlberechtigten wissen, dass Wahlen nicht die politische Agenda bestimmen wie das in anderen Ländern der Fall ist.

Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wissen, dass sie zu einem gewissen Zeitpunkt über politische Fragen an einem separaten Urnengang mitreden können. Im Allgemeinen bestimmen regionale Faktoren das Wahlergebnis mehr als Ereignisse wie jenes in Fukushima.

swissinfo.ch: Welche Partei hat mit ihrer Reaktion auf den Atomunfall in Japan am meisten überzeugt?

 

G.L.: Die Grünen und die Sozialdemokraten stimmten am besten mit ihrer Politik überein, denn sie fordern seit Jahren den Ausstieg aus der Atomenergie. Und nun betonen sie diese Forderung natürlich um so mehr.

Die Mitte-Rechts-Parteien jedoch kämpfen offensichtlich, denn sie haben sich bisher für den Bau neuer AKW ins Zeug gelegt. Ihre Energiepolitik ist nun zusammengebrochen, und sie müssen sie neu definieren. Ihre Position kam deshalb kaum überzeugend rüber.

swissinfo.ch: Die Grünliberalen haben bei den jüngsten Wahlen am meisten profitiert. Wieso waren sie erfolgreicher als die Anti-AKW-Parteien der ersten Stunde, die Grünen oder die Sozialdemokraten?

 

G.L.: Umweltfragen richten sich nicht nur an eine links-grüne oder sozialdemokratische Wählerschaft.

Die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien – die Christlich-Demokraten und die Freisinnigen – haben Bedenken gegen Atomkraftwerke jedoch bisher ignoriert. Mit den Grünliberalen haben ihre Anhänger nun eine Alternative erhalten.

swissinfo.ch: Bezahlen die Verlierer-Parteien nun den Preis für ihre engen Beziehungen zur Atomindustrie?

 

G.L.: Diese Erklärung ist zu einfach. Es gibt keine solche kausale Verknüpfung. Das Problem liegt tiefer.

In der Vergangenheit haben sich diese Parteien in ihren Hochburgen gut gehalten. Sie haben es jedoch versäumt, neue Anhänger zu finden, auch weil sie ihrer Basis nicht mehr klare und starke Botschaften liefern.

Hinzu kommt, im Fall der Freisinnigen Partei, die Kehrtwende in Sachen Atomkraft vor etwa zehn Tagen. Das grosse Problem bei dieser Partei ist, dass sie als Lobby-Organisation für verschiedene wirtschaftliche Interessen wie Banking, Pharma oder Energie wahrgenommen wird.

swissinfo.ch: Weshalb hat die rechts-konservative Schweizerische Volkspartei SVP bei den kantonalen Wahlen keinen Rückschlag erlitten, obwohl sie sogar die symbolische Bedeutung von Fukushima in Abrede stellen wollte?

 

G.L.: Wahrscheinlich weil ihre Wählerschaft vor allem besorgt ist über Einwanderung, Asylsuchende und die Unabhängigkeit der Schweiz von der Europäischen Union. Dies sind die Kernanliegen, auf welche sich die Partei konzentriert. Und sie wird im Vorfeld der Wahlen diese Themen weiter ausschlachten.

 

swissinfo.ch: In welcher Form wird Fukushima die nationalen Wahlen vom Oktober beeinflussen?

 

G.L.: Der atomare Unfall hat die politische Dynamik stark verändert. Was zuvor vor allem nach einem Wahlkampf über Ausländer- und EU-Fragen ausschaute, dürfte nun von Fragen zur Atomenergie und Energiepolitik dominiert werden.

Bis im Herbst könnte die AKW-Frage etwas an Dringlichkeit einbüssen. Angesichts des Ausmasses der Katastrophe in Japan ist es aber schwer vorstellbar, dass dieses Thema die politische Agenda nicht mehr mitbestimmen wird.

swissinfo.ch: Könnten allenfalls Anti-AKW-Basis-Bewegungen von der gegenwärtigen politischen Debatte in der Schweiz am meisten profitieren?

 

G.L.: Solche Bewegungen könnten neben einigen politischen Parteien tatsächlich einen Wiederaufschwung erleben. Insbesondere, wenn die Energie-Unternehmen für eine rasche Rückkehr “Business as usual”, also zum Normalbetrieb, drängen, indem sie die Atomenergie als gangbare, vernünftige und günstige Quelle anpreisen.

Eine Stärkung der Bewegungen ist gar noch wahrscheinlicher, wenn sich die traditionellen Mitte-Rechts- und Rechts-Parteien in Sachen Atomkraft auf ihre alten Positionen zurückbewegen und eine offene Debatte blockiert bleibt.

Die Grünen haben eine Volksinitiative für den Ausstieg aus der Atomenergie lanciert.

Die Grünliberalen stellen die Einführung einer Steuer auf nicht-nachhaltige Energieformen zur Diskussion.

Die Sozialdemokraten setzen sich für eine Förderung   umweltfreundlicher Energieformen ein.

Die Christlich-Demokraten haben zu einer Revision der bundesrätlichen Energiepolitik aufgerufen und unterstützen einen Planungsstopp für neue Atomkraftwerke.

Die Freisinnigen wiesen zuerst eine Revision ihrer Energiepolitik zurück, scheinen jetzt aber dazu bereit zu sein.

Laut der SVP hat die jüngste Atom-Katastrophe keine Auswirkungen auf die Schweiz. Es brauche deshalb keine Änderungen in der Politik.

Die Grünliberalen haben in den vergangenen kantonalen Wahlen in Baselland, Zürich und Luzern bis zu 5,9% der Stimmen erhalten.

Die Grünen und Sozialdemokraten konnten sich entweder halten oder machten kleine Fortschritte.

Die Freisinnigen und die Christlich-Demokraten mussten Wählereinbussen in der Höhe von 5,7% bis 6%  im Kauf nehmen.

Die Schweizerische Volkspartei variierte mit Resultaten von -0,9% bis +3,2%.

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

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