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“Cancellara ist eher Darth Vader als Spartakus”

Fabian Cancellara bei einer Antidoping-Kontrolle. swissinfo.ch

Antoine Vayer, der Unruhestifter des Radsports, verurteilt seit Jahren die Doping-Skandale der Spitzenfahrer. Vor Beginn der Tour de France 2010 wirft der frühere Festina-Betreuer einen kritischen Blick auf die Leistungen von Fabian Cancellara.

Für die einen ein Verräter des Radsports, für die anderen ein Apostel der Ethik im Sport, lässt Antoine Vayer niemanden gleichgültig. In Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Frédéric Portoleau hat der ehemalige Betreuer der Festina-Gruppe eine Kalkulationsmethode entwickelt, mit der die Leistungen der Radrennfahrer verglichen werden können.

Zu Beginn wurde die Methode verunglimpft, heute interessieren sich wissenschaftliche Kreise immer mehr dafür. Antoine Vayer wird mit seiner spitzen, ja fast zynischen Feder in der französischen Zeitung Le Monde Kolumnen über die Tour der France 2010 schreiben. Vor dem grössten Rad-Event wirft der Franzose im Gespräch mit swissinfo.ch einen scharfen Blick auf Fabian Cancellara.

swissinfo.ch: Sie haben die Leistungen von Fabian Cancellara nach seinen Siegen des Rennens Paris-Roubaix und bei der Flandern-Rundfahrt angezweifelt. Auf welche Beweise stützen Sie sich?

Antoine Vayer: Seine übermenschlichen Leistungen sind der lebende Beweis dafür, dass er sich dopt. Das ist die Verweigerung der sportlichen Werte. Sie nennen ihn Spartakus, für mich ist er eher Darth Vader. Er hat das Böse gewählt. An den Olympischen Spielen in Peking hat Cancellara im Strassenrennen auf einem steilen Abschnitt von vier Kilometern die gleiche Geschwindigkeit entwickelt wie ein Profi bei einem Verfolgungsrennen auf der Bahn. Und dies nach 200 Kilometern Fahrt, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen.

Ich kenne viele Radrennfahrer, die aussergewöhnliche physiolgische Qualitäten haben, aber es gibt Grenzen. Als ich Ende der 1990er-Jahre die Festina-Equipe trainierte, waren die Fahrer vollgestopft mit EPO, Anabolika und anderen Wachstumshormonen. Ihre Leistungen kamen trotzdem nicht annähernd an jene Cancellaras heran. Diese Leistungen sind menschlich schlicht unmöglich ohne Hilfe von aussen.

swissinfo.ch: Wissenschafter wie Martial Saugy, Leiter des Antidopinglabors in Lausanne, findet Ihre Methode interessant, meint aber, dass es bei gewissen Parametern zu viele Unklarheiten gebe, um offenkundige Beweise zu erbringen.

Als ich vor 12 Jahren von Leistungsberechnung zu sprechen begann, wurden meine Methoden von jedermann verunglimpft. Heute stelle ich fest, dass die Begriffe Watt (Leistung) und VO2 (Sauerstoffaufnahmefähigkeit) in aller Wissenschafter Munde sind. Das ist eine Methode indirekter Aufspürung, genauso wie der biologische Pass. Wenn man mir die Gelegenheit gibt, bin ich bereit, die Grundlagen der Methode in einer wissenschaftlichen Publikation aufzuzeigen.

Ich wurde übrigens zum geplanten Prozess gegen Lance Armstrong aufgeboten, den seine Versicherungsgesellschaft gegen ihn führen wollte. Dort hätte ich meine Methode erklären sollen. Doch kam es dann, wie oft in den USA, zu einem finanziellen Vergleich, weil die Radrennfahrer kein Interesse haben, vor Gericht zu kommen.

swissinfo.ch: Man hat Cancellara beschuldigt, bei seinen Siegen von Paris-Roubaix und bei der Flandern-Rundfahrt in seinem Velorahmen einen Motor versteckt zu haben. Ist diese Hypothese nicht grotesk?

A.V.: Wenn man den “Fall Cancellara” als Techniker zerpflückt, bemerkt man, dass es viel mehr gibt als nur Vermutungen. Die Bewegung seiner Hand, das Nichtverändern der Übersetzung, obwohl er das Gegenteil vorgibt.

Auf einer der steilsten Strecken der Welt überholt Cancellara, fest im Sattel sitzend, einen anderen Fahrer, der in Sachen Doping alles andere ist als ein Heiliger, und lässt diesen buchstäblich stehen. Ich kann Ihnen versichern, solche Leistungen vollbringt man nicht mit Training.

swissinfo.ch: Cancellara ist einer der am häufigsten kontrollierten Spitzenfahrer. Ist die Dopingkontrolle wirklich dermassen lückenhaft?

A.V.: Der Antidopingkampf dient als Vorhang zur Betrügerei. Jedermann weiss genau, wie einfach es ist, die Kontrollvorrichtungen zu umgehen. Der Fahrer weiss ganz genau, welchen Test zu welcher Zeit er machen muss. Deshalb kann er seine Dosierung entsprechend anpassen. Und dies ist umso einfacher, je mehr Geld er hat.

Der Internationale Radrennverband (UCI) spielt seine Rolle als Totengräber, er hat seine Unfähigkeit, Doping zu bekämpfen, bewiesen. Es erstaunt nicht, dass der UCI seine Oberhoheit über die Antidopingkontrollen gegenüber der französischen Antidoping-Agentur (AFLD) behalten will, obwohl die AFLD viel glaubwürdiger und kompetenter ist. Der UCI erntet die Dividenden des Radrennsports und will nicht die Hälfte der Fahrer nach einer grossen Kontrolle verlieren. Doping begleitet den Radrennsport seit dessen Beginn, dies namentlich wegen der Unfähigkeit seiner Führung.

swissinfo.ch: Laurent Fignon, zweifacher Tour de France-Sieger, bezeichnet Ihre Methoden als “Lockpfeifen” und beschuldigt Sie, viel Geld zu machen, indem Sie sich als “weisser Ritter” des Antidopingkampfes aufspielten.

A.V.: Ich habe 2300 Euro verdient als Kolumnist bei Libération zur Tour de France 2009. Wie viel hat Laurent Fignon verdient, der sich während seiner ganzen Karriere gedopt hat? Wie andere auch, isst Fignon aus der Doping-Gamelle und kommentiert Radrennen, die er selbst als Gedopter bestritten hat.

Leute wie Fignon erlauben sich, mir vorzuwerfen, ich würde den Radsport töten. Aber ich versichere Ihnen: Ich liebe diesen Sport. Leider hat aber die Tour de France in meinen Augen nicht die geringste Glaubwürdigkeit mehr.

Samuel Jaberg, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

Auf Anfrage von swissinfo.ch wollte sich Fabian Cancellara zu den Vorwürfen Antoine Vayers nicht äussern. “Fabian nimmt nicht Stellung zu diesen unfundierten Verdächtigungen, die auf unprofessionellen Recherchen basieren. Ebenso wenig zu den Spekulationen, die im Radrennsport unablässig wieder auftauchen”, sagte Rolf Huser, Manager von Fabian Cancellara.

Fabian Cancellara hat sich gegen die oft geäusserten Verdächtigungen, er habe bei seinen Siegen von Paris-Roubaix und der Flandern-Rundfahrt einen versteckten Motor verwendet, immer vehement zur Wehr gesetzt. “Ich bin konsterniert. Meine beiden Siege sind einzig und allein die Früchte meiner Arbeit. Ich bin seit zehn Jahren Profi, und jeder kennt die Arbeit, die ich geleistet habe. Ich bin immer dem gleichen Weg gefolgt. Ich verlange nur eines: Respektieren Sie mich bitte”, sagte er vor zwei Wochen zu Beginn der Tour de Suisse gegenüber der Westschweizer Zeitung “24heures”.

“Die Berechnung der Wattzahlen ist einer derjenigen Parameter, den man für den biologischen Pass heranziehen könnte”, sagte der Leiter des Antidopinglabors in Lausanne gegenüber swissinfo.ch. Das Labor ist bei der Welt-Antidopingagentur WADA zur Analyse von Dopingproben akkreditiert.

Saugy weiter: “Die Schwäche des biologischen Passes ist es, dass sich verbotene Substanzen nicht direkt nachweisen lassen. Kombiniert man verdächtige Parameter, zum Beispiel aufgefundene Medikamente mit einer abnormalen Leistung eines Athleten, erhöht das vor Gericht die Glaubwürdigkeit.”

Aber es sei eine wissenschaftliche Frage, so Saugy. ” Die Interpretationen der Wissenschafter gehen diametral auseinander, was etwa die Leistungen der Fahrer bei der Tour de France 2009 im Aufstieg nach Verbier betrifft. Die Messunsicherheit der Berechnungsmethode ist so gross, dass die Wattzahl als Parameter schwerlich als Beweis gelten kann. Es ist ein sehr interessantes Werkzeug, aber es mangelt ihm an Strapazierfähigkeit.”

Fabian Cancellara hat seiner Karriere einen weiteren Höhepunkt aufgesetzt. Der Berner gewann zum vierten Mal in seiner Karriere einen Prolog der Tour de France und trägt damit wieder das begehrte Maillot jaune.

Fabian Cancellara ging als Zweitletzter auf die völlig flache, 8,9 km messende Strecke und unterbot den Wert seines deutschen Gegners um zehn Sekunden.

Die 97. Ausgabe der Tour de France – das grösste Etappenradrennen der Welt – dauert vom 4. Juli bis zum 25. Juli 2010.

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