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Gesundheitswesen – Schweiz als Beispiel für die USA?

Die Debatte um die Gesundheitsreform im amerikanischen Kongress, eines der grossen Projekte von Präsident Barack Obama, steckt fest. Keystone

Kann das Schweizer Gesundheitssystem ein Beispiel sein für die heiss umstrittene Reform des Gesundheitswesens in den USA? Diese Frage stand im Zentrum einer Debatte an der Harvard Business School (HBS) in Cambridge.

Zu den Teilnehmern auf dem Podium gehörten von Schweizer Seite die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss und Thomas Zeltner, bis Ende 2009 Direktor des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Das Schweizer Wissenschafts-Konsulat in Boston, swissnex, gehörte zu den Mitorganisatoren der Veranstaltung.

Zum Einstieg in die Debatte erklärte Wolfgang Klietmann von der Harvard Medical School, dass das Schweizer System wichtige Punkte ausweise, die viele sich auch in den USA wünschten: Dazu gehörten der gute Zugang für die ganze Bevölkerung, die freie Wahl der Versicherung, die hohe Qualität der medizinischen Versorgung – und all dies ohne die sehr umstrittene Option einer staatlichen Krankenversicherung.

Oder anders gesagt: Im Schweizer System hat die Regierung regulatorische Befugnisse, die Versicherungen sind privat – und der Markt hat seine Rolle zu spielen.

Ruth Dreifuss sprach über die “Geburt” des Schweizer Systems, die nicht einfach gewesen sei. Sie verwies darauf, wie wichtig es war, dass alle Interessensvertreter und politischen Parteien Kompromisse eingehen mussten. Nur so konnten Lösungen gefunden werden.

“Das ist das Traurige an der derzeitigen Lage der Debatte im amerikanischen Kongress”, erklärte Dreifuss im Gespräch mit swissinfo. “Wenn eine Partei einfach nur noch Nein sagt, die andere Ja und man keinen Dialog mehr führt, dann ist das auch irgendwie eine Gefahr für das System der Demokratie.”

Solidarität: Kulturelle Unterschiede

Auch das Schweizer System mit der obligatorischen Grundversicherung für alle habe bis heute mit Problemen zu kämpfen – Stichwort Kostenentwicklung – sagte sie auf dem Podium. “Ein Gesundheitssystem wird immer etwas ein ‘work in progress’ sein, Anpassungen lassen sich nicht vermeiden”, unterstrich die frühere Magistratin.

Thomas Zeltner, der im November 2009, am Tag vor der Abstimmung über die Gesetzesvorlage im Repräsentantenhaus in Washington vor Parlamentsvertretern über das Schweizer System gesprochen hatte, kam auf einige der Probleme im Detail zu sprechen, die in der Schweiz noch einer Lösung harren.

“Das Interesse am Schweizer System ist in den USA schon in den letzten Jahren gestiegen, in den vergangenen Monaten noch etwas mehr,” sagte Zeltner nach der Veranstaltung. Es brauche viele Erklärungen, die Ansichten seien bei allem Gemeinsamen zwischen beiden Staaten unterschiedlich.

Schwierig sei es vor allem, wenn es um die Frage der Solidarität gehe, die dem Krankenversicherungsgesetz in der Schweiz zugrunde liegt. “In diesem Bereich gibt es wirklich grosse kulturelle Unterschiede.”

USA wird zum Schweizer System kommen

Für die Harvard-Professorin Regina Herzlinger, eine profunde Kennerin der Gesundheitssysteme beider Länder ist klar, dass die USA über kurz oder lang zu einem System kommen werden, das dem Schweizer System gleicht.

“Ich glaube fest daran, dass wir uns irgend wann auf diesen Pfad begeben”, sagte Herzlinger. Und zwar, weil es die Verantwortung in die Hand des Einzelnen lege, die Triebkraft seien die Konsumenten, die selber entschieden, welche Art Versicherung sie abschliessen wollten.
Das System der Schweiz sei politisch machbar, sagte Renzlinger: “Und zwar weil es parteienübergreifend ist. Die Rechte erhielt den Markt, die Linke Versicherungsschutz für alle und die Kräfte in der Mitte, dass der Einzelne über seinen Versicherungsschutz entscheidet.”

Kein Profit?

Zum Schluss der Veranstaltung stellten sich die Podiumsteilnehmer den Fragen aus dem Publikum. Auf Unverständnis stiess vor allem, dass die Versicherer im Bereich der Grundversicherung nicht Profit-orientiert arbeiten dürfen. Dies scheint in den USA irgendwie unvorstellbar – hier besteht offenbar auch grosser Erklärungsbedarf.

Gefragt wurde auch, ob die Auslagen für Medikamente von der Grundversicherung gedeckt sind oder nicht, ob es freie Arztwahl gibt oder lange Wartezeiten, wenn man ins Spital muss oder eine spezielle Behandlung braucht.

Die Veranstaltung war auf grosses Interesse gestossen, gegen 250 Personen sassen im Saal – Jung und Alt, Ärzte, Studentinnen, Pharmavertreter, Krankenschwestern, Gesundheitskonsulenten, Mitglieder der Regierung von Massachusetts.

Fazit der Diskussion: Fragen gibt es viele, einfache Rezepte nicht.

Rita Emch, swissinfo.ch, Boston

Die grossen Probleme im amerikanischen Gesundheitswesen sind bekannt: Die stetig steigenden Kosten und die grosse Zahl von rund 50 Millionen Menschen, die gar keine Versicherung haben.

Verschärft wird dieses Problem durch die Wirtschaftskrise, immer mehr Menschen können sich schlicht keine Versicherung leisten. Zudem ist ein Grossteil über den Arbeitgeber versichert – wer die Stelle verliert, verliert meist auch die Versicherung.

Die Prämien der Krankenversicherungen sind seit 2000 dreimal mehr gestiegen als die Löhne der Arbeitnehmenden.

Medizinische Kosten sind einer der Hauptgründe für den Privat-Bankrott.

Die Debatte um die Gesundheitsreform im amerikanischen Kongress, eines der grossen Projekte von Präsident Barack Obama, steckt fest.

Die Fronten zwischen Demokraten und Republikanern sind total verhärtet –ob der Kongress überhaupt eine Gesetzesvorlage verabschieden werden kann, ist offen.

Erneut droht das grosse amerikanische Gesundheits-Reformvorhaben zu scheitern, wie letztmals am Anfang der Amtszeit von Präsident Bill Clinton.

Das Gesundheitssystem der USA ist das teuerste der Welt. Die Kosten betragen heute gut 17% des Brutto-Inlandprodukts. In der Schweiz liegen die Kosten bei rund 11%, ähnlich in Frankreich.

Pro Jahr betragen die Kosten in den USA rund 8000$ pro Person, in der Schweiz etwa 4700$.

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