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“Wer Ja stimmte, schädigte sein eigenes Portemonnaie”

Deutschland und die Schweiz sind wirtschaftlich stark verflochten. Aber die Einwanderungspolitik und der starke Franken hemmen den Handel. Keystone

Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland leiden unter dem starken Franken und der Verunsicherung als Folge der Initiative "gegen Masseneinwanderung" (MEI). Aber der Rückgang der Ein- und Ausfuhren ist laut der Handelskammer Deutschland-Schweiz bisher geringer als befürchtet.

Das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern reduzierte sich im letzten Jahr gegenüber dem Vorjahr um 4,6 Prozent. Die Exporte nach Deutschland verringerten sich sogar um 5,1 Prozent auf 37 Milliarden Franken. Im Rekordjahr 2008 lagen sie noch bei rund 42 Milliarden. Obwohl sich ein Teil der Handelsströme in den letzten Jahren in andere Länder verlagerte – allen voran nach China und in die USA – bleibt Deutschland mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Aber der starke Schweizer Franken setzt manchen Firmen in der Schweiz merklich zu. Es gebe allerdings auch einige Gewinner. Insgesamt sei die Situation (noch) nicht so dramatisch, sagt Gottlieb Keller, Präsident der Handelskammer Deutschland-Schweiz.

Gottlieb Keller Keystone

swissinfo.ch: Unter den Verlierern der veränderten Wechselkurse befinden sich vor allem die schweizerische Tourismus- und Exportindustrie. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen haben Wettbewerbsnachteile. Die grossen Firmen scheinen wenig Schaden genommen zu haben?

G.K.: Für die meisten Konzerne, die Produktionsstandorte im Ausland und länderübergreifende Wertschöpfungsketten haben, ist die Lage nicht dramatisch, zum Teil sogar vorteilhaft.

swissinfo.ch: 2009 betrug die Zahl der Übernachtungen deutscher Gäste in der Schweiz rund 6 Millionen, während die Zahl der Übernachtungen von Schweizer Gästen in Deutschland nur bei 3,9 Millionen lag. 2015 war das Verhältnis praktisch umgekehrt. Auch dafür dürfte vor allem die Stärke des Frankens verantwortlich sein.

G.K.: Das stimmt, aber es gibt auch andere Gründe. Während meiner Jugend war Skifahren populärer als heute. Inzwischen scheint es am Abklingen zu sein. Die Berggebiete sehen auch weniger Touristen aus dem Inland, weil auch die Schweizer etwas weniger zahlreich Skifahren. Tourismusorte im Ausland haben aufgeholt, insbesondere Österreich. Aber sie profitieren natürlich auch vom günstigeren Euro.   

swissinfo.ch: Sie heben vor den Medien die wechselkursbedingten Probleme für manche ihrer Mitgliedfirmen hervor. Ist das gleichzeitig ein Appell an die Nationalbank, den Euro zu stützen?    

G.K.: Es gibt einzelne Firmen, die solche Forderungen stellen. Das kann ich verstehen. Aber für uns als Handelskammer ist es wichtig, dass die SNB unabhängig bleibt und nicht zum Spielball der Politik wird. Ich habe grosses Vertrauen ins Vorgehen der Notenbank.

swissinfo.ch: Stark zugenommen haben 2015 die Direktinvestitionen, vor allem jene der Schweizer in Deutschland. Auch dafür dürfte der starke Franken eine Rolle gespielt haben?

G.K.: Das war sicher auch ein Faktor. Mit dem sogenannt überbewerteten Schweizer Franken lässt sich im Ausland günstiger investieren. Sollten sich die Währungsverhältnisse eines Tages wieder in umgekehrter Richtung entwickeln, lässt sich beim Verkauf ein Gewinn erzielen.  

swissinfo.ch: Mehr Investitionen im Ausland bedeuten aber auch eine Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland?

G.K.: Einzelne Firmen verlagern tatsächlich ihre Produktion oder Teile davon ins Ausland. Aber, die Schweiz hat sich für die MEI entschieden. Für jene Leute, die am 9. Februar 2014 Ja gesagt haben, müsste eine solche Verlagerung geradezu erwünscht sein. Aus der wirtschaftlichen Optik wäre mir ein Wirtschaftswachstum in der Schweiz zwar lieber, aber es ist eine Folge des Volksentscheids, der bei gewissen Firmen zu Verunsicherung führt. Ich muss allerdings zugestehen, dass es bis jetzt weniger schlimm war, als ich vor zwei Jahren befürchtet hatte. 

swissinfo.ch: Manche Ja-Sager wünschten sich vermutlich nicht eine Verlagerung der Arbeitsplätze ins Ausland, sondern weniger Ausländer auf dem Schweizer Arbeitsmarkt?  

G.K.: Wir haben immer gesagt, dass die Annahme dieser Initiative negative Folgen für die Wirtschaft haben werde. Das wussten alle, die damals abgestimmt haben. Wer Ja stimmte, hat sein eigenes Portemonnaie geschädigt.

swissinfo.ch: Die Handelskammer begrüsst ausdrücklich den Vorschlag der Schweizer Regierung, die Initiative mit einer Schutzklausel umzusetzen, obwohl dadurch ein zusätzlicher administrativer Aufwand auf die Firmen zukommen wird. Was Sie sonst immer beklagen?

G.K.: Die Schutzklausel ist keine ideale Lösung. Mir wäre eine Ablehnung der Initiative lieber gewesen. Aber der Volksentscheid gilt, die Verfassung wird umgesetzt. Uns scheint die Variante mit der Schutzklausel die bestmögliche Lösung zu sein. Wir hoffen, dass die Schweiz mit der EU eine Verhandlungslösung findet, damit die bilateralen Beziehungen nicht gefährdet werden.

swissinfo.ch: Sie sind der Ansicht, dass die Grenzgänger nicht unter die Schutzklausel fallen sollten, obwohl sie laut Verfassungstext dazu gehören würden.

G.K.: Das ist zwar richtig, aber wenn man sich auf den Sinn der MEI abstützt, welche sich auf die Einwanderung bezieht, gehören Grenzgänger nicht dazu.

swissinfo.ch: Weshalb unterstützen Sie nicht ausdrücklich die Initiative “Raus aus der Sackgasse”, welche den Entscheid vom 9. Februar rückgängig machen will?

G.K.: Das könnte man. Aber nach so kurzer Zeit, wäre es eine Zumutung gegenüber dem Volk. Es könnte eine Trotzreaktion bewirken. Und wenn die Rasa-Initiative massiv abgelehnt würde, wäre der Spielraum für die Regierung für die Umsetzung der MEI weiter eingeengt. Aber vielleicht in zehn Jahren wieder. 

swissinfo.ch: Ein Teil der Bevölkerung fühlt sich von den Vorteilen der Globalisierung ausgeschlossen und ist vielleicht auch deshalb empfänglich für Massnahmen gegen den freien Personenverkehr. Was unternehmen die Firmen, um diese Leute ins Boot zu holen?    

G.K.: Ich bin der Meinung, dass dies eher ein Gefühl ist. Tatsache ist, dass in einer wachsenden Volkswirtschaft, die Stellen schafft, die dafür sorgt, dass die Infrastruktur ausgebaut wird, letztlich alle profitieren.

Hohe Verflechtung

2015 bezog die Schweiz fast 30% ihrer Importe aus Deutschland. Danach folgen Italien mit einem 10%-Anteil, Frankreich mit 8%, China mit 7,4% und USA mit 7%.

Mit einem Anteil von 18,1% bleibt Deutschland auch der wichtigste Exportmarkt der Schweiz. Auf den weiteren Plätzen landeten die USA mit einem Anteil von 14%, Frankreich mit 7%, Italien mit 6,3% und Grossbritannien mit 5,8%.

Bereits seit einigen Jahren gehen die Anteile Deutschlands am Schweizer Aussenhandel zurück.

2008 hatte der Exportanteil nach Deutschland noch 20,3% betragen. 2015 waren es 18,1%. Der Importanteil erodierte in der gleichen Zeitspanne von 35% auf 28,3 Prozent.

Von diesen Entwicklungen haben insbesondere die USA und Schwellenländer wie China profitiert.

(Quelle: sda)

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