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Heimweh nach Tibet im “heiligen Land”

Lhamo Ba-Serkhang in ihrer Wohnung in der Schweiz. Manuel Bauer

Vor 50 Jahren kam es zum Tibet-Aufstand gegen die chinesische Besetzung: Zehntausende Tibeter bezahlten dafür mit dem Leben, Zehntausende flüchteten über den Himalaja. Lhamo Ba-Serkhang blieb damals zurück – bis auch sie nur noch das Exil als Ausweg sah.

Die 60-jährige Tibeterin Lhamo Ba-Serkhang, die seit 1992 in der Schweiz lebt, ist in Gedanken in Tibet geblieben – auch wenn die Schweiz für sie ein “heiliges Land” ist, wie sie sagt.

Die Wände ihrer kleinen Block-Wohnung im bernischen Thun sind mit Tüchern mit Buddha-Figuren, Tibet-Flaggen und grossen Landkarten der verlorenen Heimat bedeckt. Das Wohnbuffet dient als Hausaltar. Neben den Opferschalen stehen zwischen Vasen mit Plastikblumen Fotos des Dalai Lama und des heiligen Bergs Kailash.

Rechts und links des grossen Flat-Screen-Fernsehers hängen Bilder aus fernen Zeiten: Auf einem ist Lhamo Ba-Serkhang mit ihren vier Kindern vor dem Potala-Palast in Lhasa zu sehen.

Politische Lieder

Die Frau mit den schwarzen, mit einem orangenen Band zusammengebundenen Haaren kam kurz vor dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee auf die Welt. Sie kennt Tibet nur als besetztes Land.

Ihre Lebensgeschichte, die sie im so eben erschienen Buch “Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht” erzählt, ist geprägt von Unterdrückung und Trennung.

Ihr Vater, der Dorf-Bürgermeister war, wurde ins Gefängnis gesteckt als sie 9 Jahre alt war. Haus, Land und Tiere der Familie wurden konfisziert, die Mutter und später auch Lhamo Ba-Serkhang als Konterrevolutionärinnen ausgegrenzt. Sie mussten für die chinesischen Besatzer arbeiten. “Wir waren die Knechte in unserem eigenen Land.”

Um das Leiden ihres Volkes etwas zu schmälern, wie Lhamo Ba-Serkhang sagt, habe sie politischen Gefangenen zur Flucht verholfen und politische Lieder gesungen. Sie habe damit auch nicht aufgehört, nachdem die chinesischen Besatzer versucht hätten, mit einer Operation ihre Stimme zum Verstummen zu bringen.

Die Flucht

Als 1989 der 10. Panchen Rinpoche starb – er ist nach dem Dalai Lama der wichtigste tibetische Würdenträger –, seien sofort Gerüchte aufgekommen, die Chinesen hätten ihn vergiftet, erzählt Lhamo Ba-Serkhang. Ihr wurde klar: Sie hatte in Tibet nichts mehr verloren, sie musste ihre Heimat verlassen.

Drei Tage kämpfte sie sich durch das Himalaja-Gebirge, das sie wie eine riesige Festung aus Fels, Schneee und Eis von einem Leben in Sicherheit trennte.

Sie gelangte schliesslich nach Nepal und von dort ins indische Dharamsala, dem Sitz der Exil-Regierung des Dalai Lama.

Der Versuch, ihren Mann und die Kinder nachzuholen, wurde von einer chinesischen Patrouille vereitelt. Ihr Mann, von dem sie sich inzwischen geschieden hat, lebt immer noch in Tibet. Drei ihrer vier Kinder gelang schliesslich doch noch die Flucht aus Tibet. Dank dem Roten Kreuz kamen sie 1995 in die Schweiz.

Sie sei damals am Bahnhof Zürich von einem tibetischen Funktionär mit einem für sie ungewohnt modernen Wagen abgeholt worden, erinnert sich Lhamo Ba-Serkhang an ihre eigene Ankunft in der Schweiz. Als sie sich wie im Flugzeug habe angurten müssen, habe sie gedacht, dass hier sogar die Autos fliegen würden, sagt sie und lacht.

Geplagt von Gewissensbissen

Obwohl ihre Mutter es keinesfalls bereue, für ihr Land gekämpft zu haben, plagten sie noch heute Gewissensbisse, als “Untergrund-Aktivistin” ihre Familie in Gefahr gebracht zu haben, erklärt Dolma, ihre 23-jährige Tochter.

Was vermisst Lhamo Ba-Serkhang am meisten? Auf das Gesicht von Lhamo Ba-Serkhang fällt ein Schatten, die Hände auf ihrem Schoss krampfen sich zusammen. Ihre Mutter leide sehr darunter, dass ihre Eltern gestorben seien, ohne dass sie sie noch einmal habe sehen können, erklärt Dolma, als Lhamo Ba-Serkhang unvermittelt aufsteht.

Solidarität versus Eigeninteresse

Lhamo Ba-Serkhang hat die Hoffnung nicht verloren, dass “Tibet mit Unterstützung anderer Länder eines Tages frei sein wird und die ganze Welt darauf anstossen kann”.

Skeptischer zeigt sich diesbezüglich ihre Tochter, obwohl sie im Alltag immer wieder auf Interesse und Solidarität für Tibet stösst. “Es gibt viele Leute, die sich für Tibet einsetzen. Doch welches Land bietet China die Stirn, wenn es darauf ankommt?” Jeder schaue zuerst für sich, das sei leider die Realität, sagt Dolma.

Die beiden Tibeterinnen stehen hinter der Politik des Dalai Lama, Kritik am geistlichen tibetischen Führer gibt es für sie nicht. Auch von Verklärung der Heimat durch die Exil-Tibeter ist für die beiden nicht die Rede.

Auch wenn Dolma an der Kundgebung zum 50. Jahrestag des Tibet-Aufstands in Bern teilnimmt, gehört sie nicht zur jungen tibetischen Protest-Generation. Sie versuche in erster Linie, Tibet mit finanziellen Mitteln zu unterstützen, sagt sie.

swissinfo, Corinne Buchser

Am 7. Oktober 1950, ein Jahr nachdem Mao Zedong die Volksrepublik China ausgerufen hatte, marschierte die Volksbefreiungsarmee mit 40’000 Mann in Osttibet ein.

Eine Woche nach dem blutigen Volksaufstand im Jahre 1959 flüchtete der damals erst 24-jährige Dalai Lama aus Lhasa nach Indien. Über 80’000 Tibeter folgten ihm über die verschneiten Himalaja-Pässe ins Exil.

Im Herbst 1960 traf die erste Flüchtlingsgruppe im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen ein. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges bewilligte der Bundesrat 1963 die Aufnahme von 1000 Tibetern.

Heute bilden die rund 4000 Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz die grösste Exilgemeinschaft in Europa.

Die bedeutendste Gemeinschaft lebt mit rund 170 Tibetern im Zürcher Rikon. Dort befindet sich auch ein tibetisches Kloster.

Fünfzig Jahre nach dem Volksaufstand gegen die chinesische Besetzung erzählen zwölf Tibeterinnen und Tibeter im so eben erschienen Buch “Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht” ihre Lebensgeschichte.

Eine davon ist die 60-jährige Lhamo Ba-Serkhang. Sie kam 1992 in die Schweiz, wo sie ein Restaurant eröffnete und seit einem Unfall als Köchin arbeitet.

Der Journalist Christian Schmid und der Fotograf Manuel Bauer dokumentieren das Schicksal von Bauern und Nomaden, Händlern und Mönchen, die aus der Stille des tibetischen Hochlands mitten in eine industrialisierte Leistungsgesellschaft geraten sind.

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